19. April 2024

Parlament beschließt 75-Punkte-Reformprogramm

Kubas Parlament hat auf seiner dreitägigen Sommersitzung ein neues Maßnahmenpaket zur Belebung der Wirtschaft auf den Weg gebracht. Das 75 Punkte umfassende Programm setzt viele der bereits laufenden Vorhaben fort, an einigen Stellen kommen jedoch auch gänzlich neue Ansätze zum Tragen. Zu den bahnbrechendsten Ankündigungen zählte die baldige Einführung eines Devisenmarkts für die Bevölkerung und Touristen. Darüber hinaus stellte Wirtschatsminister Alejandro Gil der Nationalversammlung neue Daten zur Lage der Wirtschaft im ersten Halbjahr vor. Die wichtigsten Infos der dreitägigen Sitzung, die vom 21. bis 23. Juli tagte, wie immer im Überblick:

Allgemeine Wirtschaftsperformance

  • Wie Wirtschaftsminister Alejandro Gil erklärte, wuchs Kubas Bruttoinlandsprodukt nach der schwersten Rezession seit den 1990er Jahren im ersten Quartal 2022 um 10,9 Prozent im Vergleich zum selben Zeitraum des Vorjahres. Dies mag zunächst extrem positiv klingen, muss in Anbetracht der vorangegangenen Rezession allerdings eingeordnet werden: Volkswirtschaften neigen nach starken Rezessionen zu hohem Wachstum, dies ist anfangs vor allem ein statistischer Effekt, der die Trendwende signalisiert. Für spürbare Wohlstandsgewinne ist ein kontinuierlicher Anstieg über einen längeren Zeitraum erforderlich. Die Zahl bedeutet daher im aktuellen Kontext nicht mehr und nicht weniger, als dass Kubas Wirtschaft aufgehört hat zu schrumpfen zurück auf Wachstumskurs gekommen ist. Auch Gil mahnte entsprechend zur Vorsicht, indem er erklärte, dass das BIP sich aktuell noch immer 7 Prozent unter dem Stand des ersten Halbjahres 2019 bewegt. „Für das gesamte Jahr 2022 bleibt das Ziel, ein Wachstum von 4 Prozent zu erreichen“, so der Minister.
  • Der Aufschwung hat bereits im 2. Halbjahr 2021 eingesetzt, weshalb das vergangene Jahr mit einem leichten Wachstum von 1,3 Prozent schließen konnte. Am stärksten konnten 2021 die Sektoren Gesundheit und soziale Sicherheit (+14,3 %), Bildung (+9,4 %), Transport, Logistik und Kommunikation (+5,9 Prozent) sowie Hotels und Gastronomie (+5,3 %) zulegen. Geschrumpft im Vergleich zu 2020 sind vergangenes Jahr Land- und Forstwirtschaft (-13,3 %), herstellende Industrie (-15,2 %) Handel (-6,7 %) sowie Strom-, Gas- und Wasserversorgung (-5,3 %). „Wenn wir uns die Zusammensetzung ansehen wird ersichtlich, dass wir letztes Jahr eine Zunahme in den sozialen Bereichen im Vergleich zu 2020 erlebt haben, aber kein Wachtstum in der produktiven Sphäre“, machte der Minister deutlich.
  • Im ersten Quartal 2022 konnten das Bildungswesen (+81,7 %), Hotels und Gastronomie (+40,1 %) sowie der Bausektor (+30,2 Prozent) gegenüber dem selben Quartal im Vorjahr, als sich das Land im Lockdown befand, deutlich zulegen. Die Warenexporte lagen bei 1,26 Mrd. US-Dollar (+389 Mio. im Vergleich zum Q1/2021). Einen wichtigen Anteil daran hätten die steigenden Nickel- und Zuckerpreise auf dem Weltmarkt gehabt.
  • Der Tourismus ist mit 682.297 Besuchern am Ende des ersten Halbjahres wieder moderat im Aufwind, am ambitionierten Ziel von 2,5 Millionen bis zum Ende des Jahres wird festgehalten. Die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr seien laut Gil entscheidend für das Erreichen des diesjährigen Wachstumsziels. „Wir haben keinen Ersatz dafür“, erklärte der Minister.
Kubas Deviseneinnahmen 2019-22 in Mrd. USD, jeweils im ersten Quartal (Quelle: ANPP)
  • Das Hauptproblem vor dem Kubas Wirtschaft heute steht ist der Mangel an Devisen. Zwar haben sich die Deviseneinnahmen im ersten Quartal 2022 gegenüber dem Vorjahr von 1,65 auf 2,5 Mrd. US-Dollar erhöht, jedoch liegt der Wert noch immer 38 Prozent unter dem von 2019 (siehe Grafik). „Unser Ziel ist es, so schnell wie möglich wieder das Niveau von 2019 zu erreichen“, sagte Gil.
  • In der Landwirtschaft beginnen sich nach einem starken Einbruch erste Zeichen einer vorsichtigen Erholung zu manifestieren. So legte die Milchproduktion im 1. Halbjahr um 37 Prozent zu (von 91,6 auf 126 Mio. Liter), beim Gemüse gab es ein Plus von 4 Prozent.
  • Die Umsätze im Binnenhandel sind im Vergleich zum Vorjahresquartal um 13,8 Prozent gestiegen. Davon wurden 75,7 Prozent in Pesos und 24,3 Prozent in Devisen umgesetzt. Das dürfe jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, „dass das Angebot weit unter der Nachfrage liegt“, so Gil.
  • Die Verkäufe der Staatsunternehmen lagen 8 Prozent über dem Plan (was, wie Gil an anderer Stelle deutlich machte, nicht bedeutet, dass diese effizienter wirtschaften). 437 Betriebe oder 23 Prozent fahren Verluste ein. Der Medianlohn im Staatssektor beträgt derzeit 4150 Pesos (ca. 166 Euro nach offiziellem Wechselkurs). Die Arbeitsproduktivität pro Beschäftigten wird mit 71.944 Pesos angegeben.
  • Die letzten Herbst gestartete Reform zur Dezentralisierung der Löhne auf Betriebsebene wurde bislang in 386 Unternehmen mit 453.905 Beschäftigten zur Anwendung gebracht. „Es gibt noch immer eine Reihe von Unternehmen, welche die Beschlüsse nicht richtig implementieren. Und dann gibt es einige mittlere Organe, die die Beschlüsse ohne Autorisierung anders auslegen als intendiert“, kritisierte Gil mit Blick auf die Umsetzung Reform.
  • Seit September 2021 wurden auf Kuba mehr als 4000 Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) mit 70.000 Beschäftigten etabliert, etwa die Hälfte davon sind Umwandlungen bestehender Betriebe. Die meisten der KMU (>1500) haben ihren Sitz in der Hauptstadt Havanna. Die wichtigsten Branchen sind Dienstleistungen, Baugewerbe, herstellende Industrie und Lebensmittelindustrie. Die wesentlichen ungelösten Probleme bestünden laut Gil bei der Verbindung von Staats- und Privatsektor sowie den Preisen. Bis zum 20. September müssen alle Selbstständigen („Cuentapropistas“) mit mehr als drei Beschäftigten in die neue Rechtsform übergegangen sein.
  • Für das vergangene Jahr hat das Wirtschaftsministerium eine Inflationsrate von 77 Prozent berechnet. In diesem Jahr lag die Inflation bis Ende Juni bei 13,4 Prozent. Wie Gil zu bedenken gab, schließen diese Zahlen jedoch nicht die Verkäufe auf dem Schwarzmarkt ein, weshalb die tatsächliche Inflation für die Konsumenten höher ausfallen wird. „Eine der größten Herausforderungen besteht darin, effektivere Maßnahmen zur Bekäpfung des Preisanstiegs zu finden. Es reicht nicht, nur einen Plan zu beschließen der sagt ‚das Angebot in Pesos muss vergrößert werden‘ – wenn dieser nicht mit konkreten Maßnahmen unterfüttert wird, bleibt es beim Papier“, so Gil.

Das neue Reformpaket

Abgeordnete des kubanischen Parlaments

Mit einem 75 Maßnahmen umfassenden Reformpaket, welches Gil den Abgeordneten auf der Sitzung in einer gut einstündigen Präsentation vorstellte, soll die Erholung der Wirtschaft beschleunigt werden:

  • Ziel der Maßnahmen ist es, die Deviseneinnahmen zu konsolidieren und dabei die heimische Produktion sowie die Exporte anzukurbeln. Staats- und Privatsektor sollen sich hierfür besser verzahnen, um mit dem einsetztenden Tourismus eine Wachstumsdynamik zu erzeugen, welche Mittel für Investitionen schafft. Ein wichtiger Aspekt ist die Reduzierung des Haushaltsdefizits, welches durch die hohen Lohnfortzahlungen während der Pandemie angeschwollen ist.
  • Ein Kernaspekt ist die Einführung eines Devisenmarkts, „welcher der fehlende Part in unserem Finanzsystem ist“. So wird der Staat erstmals seit der Währungsreform im Januar 2021 wieder harte Währung verkaufen. Kubaner und Touristen werden gleichermaßen Zugang diesem neuen Umtauschsystem haben, das erneut Dollar in Form von Bargeld akzeptiert. Der Wechselkurs soll sich zwischen dem offiziellen Kurs von 24:1 und dem informellen Kurs ansiedeln, so dass mit Werten von mindestens 50 bis 60:1 gerechnet werden kann. Die genaue Zahl sei noch nicht festgelegt worden. Der Kurs soll „ökonomisch fundiert sein und eine reelle Kaufkraft verleihen, um Anreize gegenüber dem illegalen Tausch auf dem Schwarzmarkt zu schaffen“, betonte Gil. Derzeit arbeite man an „letzten Details“, ein Startdatum soll entsprechend zeitnah vorliegen. Die Abgeordneten reagierten auf die Ankündigung mit lautem Beifall. Wenig später begann der Dollarkurs auf dem informellen Markt zu fallen, aktuell Zeit liegt er bei 115 CUP/USD.
  • Erleichterung für Haushalte soll durch eine Zollreform für private Einfuhren entstehen, die ab dem 15. August in Kraft tritt. So sollen viele Artikel der Kategorie „Verschiedenes“ (wozu viele Konsumgüter zählen) jetzt nach Menge und Wert und nicht mehr nach physischen Einheiten taxiert werden. Die Höchstmenge pro Postsendung wurde von 10 auf 20kg verdoppelt und der Zollsatz auf 10 US-Dollar pro Kilogramm halbiert. Das zollfreie Gewicht wurde auf 3kg verdoppelt. Für viele stark nachgefragte Artikel wurden Einfuhrgrenzen erhöht, was teilweise auch für Touristen relevant ist. Beispiele: Statt bisher zwei können jetzt fünf Smartphones zollfrei eingeführt werden. Bei Laptops und Tablets wurde die Zollgrenze von zwei auf drei Geräte angehoben. Vergleichbare Änderungen gibt es auch bei Haushaltsgegenständen wie Matratzen und Kinderspielzeug. Die bestehenden Zollausnahmen für Medikamente, Hygieneprodukte und Lebensmittel wurden bis zum 31. Dezember dieses Jahres verlängert. Zuletzt wurden im März die Zölle für eine Reihe von Produkten gesenkt.
  • Seit einigen Monaten existiert auf Kuba bereits ein zweiter Devisenkreislauf speziell für Privatbetriebe, mit denen diese ihren Außenhandel abwickeln können und an harte Währung zur Deckung ihrer Importkosten gelangen. Dieser soll im Rahmen der Möglichkeiten weiter ausgedehnt und auf Joint-Ventures und Staatsbetriebe erweitert werden. Details sind noch nicht bekannt.
  • Weitere Maßnahmen umfassen die Flexibilisierung und Erweiterung des Privatsektors. So sollen künftig Joint-Ventures zwischen staatlichen und privaten Unternehmen möglich sein. Obwohl dieser Schritt seit der neuen Verfassung von 2019 technisch möglich ist, wurde er bisher in den Reformdokumenten nicht erwähnt und stellt gewissermaßen ein Novum dar. Bereits angekündigt wurde hingegen die Öffnung des Privatsektors für ausländische Investoren. Diese soll selektiv erfolgen, d.h. für die Entwicklung des Landes wichtige Branchen und Exporteure werden bevorzugt. Auch sollen neue Mischformen möglich werden, wie z.B. staatlich-private Joint-Ventures mit ausländischer Beteiligung.
  • Eine weitere Maßnahme besteht in der Einführung von Konsignationsverkäufen durch in- und ausländische Lieferanten sowie der Vergabe einer Lizenz an die kubanische Post für grenzüberschreitenden elektronischen Handel. Damit soll der Zugang zu Großhandelswaren für die verschiedenen Wirtschaftsakteure einfacher werden. Der E-Commerce, bei dem laut Gil momentan der Staat dem Privatsektor hinterherhinke, soll weiter konsolidiert und gefördert werden.
  • Die Einnahmen der Gemeinden sollen gestärkt und lokale Wirtschaftskreisläufe gefördert werden. In den Themenbereich Haushaltskonsolidierung fällt der Abbau von Überbeschäftigung im Staatssektor, wobei hierzu noch keine genauen Pläne bekannt wurden. Die Gründung von kleinen, exportorientierten Staatsbetrieben, soll vorangetrieben werden. Außerdem sollen Staatsbetriebe einen Teil ihrer Gewinne für die Errichtung von Wohngebäuden für die Beschäftigten nutzen.
  • Auf sozialpolitischem Gebiet soll die Stadtteilarbeit in vulnerablen Gegenden fortgesetzt werden. Entsprechende Haushalte sollen neue Zuschüsse erhalten. Die Gründung privater Wäschereien und Essensangebote für diese Gemeinden soll gezielt gefördert werden.
  • Der Verkauf von Solarpaneelen an Privatpersonen soll ausgeweitet und die momentan relativ niedrige Einspeisevergütung geprüft werden.
  • Im Bereich des Transportwesens soll die Nutzung von Biogas und anderen Biomassekraftstoffen ausgeweitet werden. Staatliche Fahrzeuge sollen verstärkt für den öffentlichen Personantransport zum Einsatz kommen.

Weitere Themen

  • Neben der Wirtschaft war Kubas neues Familiengesetz das zweite große Thema auf der Sitzung der Nationalversammlung. Dieses wurde im Rahmen einer Volksaussprache, an der mehr als sechs Millionen Personen teilgenommen haben, in den vergangenen Monaten kontrovers diskutiert. In Folge der Aussprache wurden 48 Prozent des Textes Veränderungen unterzogen. Dabei sei unter anderem der Schutz von Kindern nochmals verbessert worden. Die Mechanismen, um Sexualstraftaten zur Anzeige zu bringen, wurden ebenfalls erweitert. Kernaspekte wie die Öffnung der Ehe für alle, oder die Abschaffung des aus dem römischen Rechts stammenden Begriffs des „patria protestad“, wonach der Vater als Familienoberhaupt gilt, wurden beibehalten. Mit der Öffnung der Ehe für alle sollen nicht zuletzt auch die „Schulden der Vergangenheit“ begleichen werden, spielte Präsident Miguel Díaz-Canel auf die Verfolgung Homosexueller in 1960er und 70er Jahren an. In der Volksaussprache sprachen sich 61,9 Prozent für die Novellierung des Gesetzes aus. Nach der Annahme des Entwurfs durch die Abgeordneten steht jetzt noch ein Referendum an, welches für den 25. September terminiert ist. Bei dem Volksentscheid können alle wahlberechtigten Kubaner ab 16 Jahren teilnehmen. Auf den Abstimmungszetteln wird die Frage stehen: „Sind Sie mit dem Familiengesetzbuch einverstanden?“, darunter kann mit Ja oder Nein votiert werden kann. Für die Annahme ist eine absolute Mehrheit der gültigen Stimmzettel notwendig.
  • Weiteres Thema war die kritische Energiesituation im Land. Die mehrstündigen Stromabschaltungen („apagones“) haben zuletzt auch die Hauptstadt Havanna erreicht. Zuletzt entlud sich der Zorn betroffener Anwohner auf die Rationierungsmaßnahme in Form spontaner Proteste vor Regierungsgebäuden, auf die der Präsident während der Sitzung bezug nahm: „Ich verstehe das logische Unbehagen und die Unzufriedenheit, aber das ist ein Moment, in dem wir angesichts der Härten, die uns durch diese objektive materielle Situation auferlegt werden, geschlossen bleiben müssen“. Gewalt und Vandalismus würden nur denjenigen in die Karten spielen, „die uns blockieren und die verhindern, dass wir die nötigen Mittel erwerben, um aus dieser Lage herauszukommen“, so Díaz-Canel. Weitere Infos zur aktuellen Energiekrise auf → Amerika21
  • Außenhandelsminister Rodrigo Malmierca gab den Abgeordneten ein Update zum Stand der ausländischen Investitionen. Demnach laufen derzeit Verhandlungen für 57 Prjekte über eine Summe von insgesamt 5 Milliarden US-Dollar, welche sich im Laufe der nächsten 12 Monaten konkretisieren könnten. Wiederholt wies er dabei auf bestehende Hemmnisse in seinem Geschäftsbereich hin. „Die Aufhebung der Blockade liegt nicht in unserer Hand“, weshalb „wir uns auf die Hindernisse konzentrieren müssen, die von uns abhängen, wie die Verzögerungen laufender Verfahren und die mangelnde Vorbereitung der Verhandlungsgruppen“, so Malmierca. Geprüft werden derzeit die sieben ersten Vorschläge für eine Beteiligung ausländischer Investoren an Privatunternehmen sowie die Zulassung von ausländischen Investoren im Binnenhandel. 2020 und 2021 wurden lediglich 47 neue Joint-Ventures genehmigt, von denen sich bislang 25 konstituiert haben. Bis Ende letzten Jahres gab es auf Kuba 285 Joint-Ventures und andere Projekte mit ausländischem Kapital, davon 49 in der Sonderwirtschaftszone von Mariel (ZEDM).

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