6. Dezember 2024

Kuba am Abgrund: Die Krise spitzt sich zu

Ein Gastbeitrag von Andreas Hesse.

Am 18. Oktober um 11 Uhr morgens geschah der Super-GAU: eine Havarie des Stromkraftwerks „Antonio Guiteras“, das größte der Insel, führte zum Kollaps des landesweiten Stromnetzes. Plötzlich lag das Land mehrere Tage im Dunkeln, und im Kühlschrank verkam alles, was nicht bald verarbeitet werden konnte. Havanna macht die US-Blockade der Inselwirtschaft für das apokalyptische Szenario verantwortlich. Ila-Autor Andreas Hesse hat noch andere Gründe gefunden.

Einen Zusammenhang zwischen Blockade und Kollaps gibt es durchaus: Die Folgen von 18 Tagen Wirtschaftsblockade kosten das Land genauso viel wie die Anlagen des Stromversorgers UNE ein Jahr lang zu warten, erklärt das Außenministerium. Dreizehn von fünfzehn Kraftwerksblöcken befinden sich außerhalb des notwendigen, kostspieligen Wartungszyklus. Das andere Problem ist der Zugang zu Erdöl, denn die Insel produziert selbst nicht ausreichend davon. Nicht nur fehlen Devisen für Importe, die USA hat darüber hinaus dieses Jahr in 53 Fällen Strafzölle für Energieexporte nach Cuba verhängt. Neben dieser externen Aggression rücken aus Sicht der Bevölkerung und renommierter Ökonomen der Insel auch hausgemachte strukturpolitische Fehler in den Fokus.

Die vielleicht einzige positive Nachricht für die cubanische Wirtschaft kommt nicht aus Cuba, sondern aus Miami. Alex Otaola, bekannter exilkubanischer Rechtsausleger, war am 20. August siegessicher in die Kommunalwahlen im County Miami-Dade gegangen. Dabei spricht er nicht einmal Englisch und wartete mit einem für Kommunalwahlen höchst wunderlichen Programm auf. Er wollte nicht nur Miami „von Kommunisten befreien“, es sollte auch kein Dollar mehr von Miami aus nach Cuba gelangen: Geldüberweisungen aus der großen cubanischen Gemeinschaft und Flüge auf die Insel sollte es nicht mehr geben. Doch mit dem dritten Platz und knapp 12 Prozent der Stimmen gab es nur eine krachende Niederlage zu vermelden. Nach Art seines großen Idols Donald Trump verlangte Otaola wütend eine Nachzählung. Die Wahlbehörde belehrte ihn süffisant, dass er das bei 46 Prozent Rückstand auf die Erstplatzierte abhaken könne.

Da Cuba willkürlich auf der Liste angeblich terrorunterstützender Staaten platziert worden ist, verschärft sich die US- Aushungerungspolitik auch ohne Otaola. Dadurch wird die Insel von den internationalen Finanzströmen abgekoppelt und der Druck auf die internationalen Kooperationspartner Cubas steigt. Insbesondere das De-facto-Einreiseverbot in die USA für alle, die vorher Cuba besucht haben, ist für den Tourismus und die fragile Inselökonomie insgesamt fatal. Subventionierte Lebensmittel und Medikamente sind nur noch eingeschränkt verfügbar, so dass die Menschen auf teurere Märkte ausweichen und die Inflation befeuert wird. Der Einkauf in den hochpreisigen privaten Lebensmittelkiosken oder auf dem Schwarzmarkt für Medikamente hat zur Folge, dass am Ende des Geldes noch sehr viel Monat übrig ist. Verzweiflung macht sich breit. Hinzu kommt die eingeschränkte Verfügbarkeit von Strom, Sprit und Wasser. Das zermürbt. Schon vor dem Super-GAU lag das Stromdefizit in der ersten Oktoberhälfte in Spitzenzeiten regelmäßig zwischen 1200 und 1600 Megawatt, bei einem Gesamtbedarf von etwa 3200 MW. Die Folge: Stromausfälle außerhalb Havannas, die über einen halben Tag lang andauerten.Im Windschatten der Stromkrise kommt die Wasserkrise daher: Das ebenfalls überalterte und leckende Leitungssystem müsste dringend erneuert werden. Doch auch dafür fehlen die Mittel.

Nicht alle sind gleichermaßen in Mitleidenschaft gezogen. Das Entstehen einer neureichen Geldkaste in Havanna, die ostentativ ihren Wohlstand zur Schau trägt, wird von der Bevölkerung genau registriert. Das führt den egalitären Anspruch der Revolution ad absurdum und löst Entsolidarisierung aus. Laut dem Ökonomen Pedro Monreal machen Personen mit einem stark überdurchschnittlichen Einkommen und deren Familienangehörige ungefähr 15 Prozent der Bevölkerung aus. Während die staatliche Importkapazität für Lebensmittel weiter zurückgeht, steigen die Autoimporte rasant an (diese Nachfrage ist überwiegend privater Natur). Die offizielle Parole, niemand werde zurückgelassen, hat in Zeiten neuer sozialer Ungleichheit an Glaubwürdigkeit verloren.

Selbstblockade und Fehlinvestition

Kann Cuba etwas tun außer auf eine Aufweichung einer Blockade zu warten, die vielleicht nie kommt? Premierminister Manuel Marrero Cruz erklärte, in fünf Jahren werde das Land viel besser da stehen als heute. Wie sollen die Menschen so lange durchhalten? Wer ist dann überhaupt noch da und ist noch nicht ausgewandert? Statt lediglich den tödlichen Druck von außen anzuklagen, müssten die strukturellen Defizite im Innern angegangen werden. Immerhin erkannte besagter Marrero Cruz im letzten Jahr die Existenz eines „autobloqueo“, einer Selbstblockade, an. Doch was geschieht konkret?

Das geplante Unternehmensreformgesetz wird ein ums andere Mal verschoben, die Importsubstitution kommt nicht vom Fleck. Die Weltmarktabhängigkeit bei Lebensmitteln und Energie ist seit Jahrzehnten ein Spiel mit dem Feuer. So kritisiert der bereits erwähnte Pedro Monreal, dass im ersten Halbjahr 2024 ungefähr 40 Prozent der Investitionsmittel in den Tourismus gelenkt worden seien, während die Investitionen in die Landwirtschaft hingegen bei nur 2,5 Prozent lägen. Dieses Missverhältnis habe sich in den letzten acht Jahren nicht geändert. Man mag die genannten 40 Prozent anzweifeln, da die Begrifflichkeiten der Statistikbehörde ONEI nicht immer eindeutig sind, an einer generellen Schieflage bei den Investitionen besteht dennoch kein Zweifel. Die offizielle Erklärung lautet, dass Verträge mit internationalen Investoren erfüllt werden müssten die nun einmal in den Tourismus und nicht in die Trinkwasserversorgung und andere defizitäre Bereiche investierten. Doch in der Bevölkerung rumort es, wenn statt in eine rechtzeitige Wartung der Stromkraftwerke oder in die Landwirtschaft in einen Tourismus investiert wird, der kaum noch existiert und der mit der jetzigen Krise den nächsten K.O. Schlag bekommt.

Das Regierungskalkül beruht auf steigenden Einnahmen aus dem Tourismus, die die vielen Löcher stopfen sollen. Tatsächlich deutet sich ein anderes Szenario an: Tourist*nnen sind schreckhafte Wesen. Wenn die Grundversorgung nicht funktioniert und sie befürchten müssen, durch dunkle Städte zu laufen oder nicht von A nach B zu kommen, reisen sie erst gar nicht an. Auch die Ausbreitung des Oropouche-Virus wirkt abschreckend. Auf der Suche nach Tourist*nnen sind die cubanischen Botschaften nun instruiert worden, auch in entlegeneren Ländern Reisewillige nach Cuba zu locken.

Landwirtschaft in Not

Acopio-Verkaufsstand in Santiago de Cuba (Quelle: Acopio/FB)

Der Boom des Hauptexportprodukts Nickel auf dem Weltmarkt ist aufgrund der Nachfrageschwäche in China und der Produktionsausweitung in Indonesien vorbei. Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie leiden unter fehlendem Treibstoff und Strom. Im Jahr 2023 verzeichnete die Landwirtschaft ein Minus von 14 Prozent, die Kaffeeproduktion sank gar um 44,8 und die Herstellung von Speiseöl um 89,3 Prozent. Die Zuckerrohrernte ist die schlechteste seit Beginn der Revolution.

Die unterfinanzierte und hyperbürokratisierte Landwirtschaft ist seit vielen Jahren ein Problem.

Cubanische Ökonomen wie Juan Triana Cordoví und Omar Everleny Pérez kritisieren, dass bald nach der Jahrtausendwende der Teilrückzug aus dem Zuckerrohr beschlossen wurde, ohne die verbliebenen Teile der Zuckerindustrie so auszustatten, dass sie wettbewerbsfähig hätten wirtschaften können. Trotz freigewordener Flächen und Ressourcen entwickelte sich auch die restliche Landwirtschaft nicht weiter. Auf den Teilrückzug folgten einige Dürrejahre, die einem Agraraufschwung entgegenstanden. Doch 2006 gab es genügend Niederschlag. Dennoch ging die Agrarproduktion weiter zurück. Spätestens da war das strukturelle Problem erkennbar. Erst Jahre später sorgte Raúl Castro dafür, dass brachliegende Flächen auf Nießbrauchbasis an Interessierte abgegeben wurden. Den entscheidenden Durchbruch brachte das noch nicht, schließlich verfügten nicht alle Neulandwirt*innen über Know-how und Ressourcen. Eine kleckerweise Erhöhung der aus sozialpolitischen Gründen niedrig gehaltenen Erzeugerpreise zeigte zu geringe Effekte. Ein Bauer aus der Sierra Maestra brachte in dem Dokumentarfilm „Adónde vamos?“ von Ariagna Fajardo die Gründe für die Landflucht auf den Punkt. Wenn er 21 Pesos aufwenden müsse, um 20 Pesos einzunehmen, habe er ein Problem. Sein Sohn werde die Finca nicht übernehmen wollen, sondern sich in die Provinzhauptstadt Bayamo oder nach Havanna absetzen.

An dieser Stelle sei ein Exkurs gestattet. Hauptmann Thomas Sankara, Revolutionsführer in Burkina Faso, orientierte sich bis zu seiner Ermordung 1987 in fast allem am großen Vorbild Cuba. Nur in einem Punkt folgte er Cuba nicht: Sankara erhöhte peu à peu die Erzeugerpreise der Bauern, was zu einem Produktivitätszuwachs führte, von dem man in Cuba nur träumen konnte. Auf der Insel ist es neben den Erzeugerpreisen die logistische Überforderung der staatlichen Ankaufgesellschaft Acopio, die den Bauern und Genossenschaften schwer zu schaffen macht. Der Bauer, der ein Jahr nach Ablieferung eines Rinds immer noch auf sein Geld wartet, wird wohl kaum einen Motivationsschub verspüren. Eigentlich sollte das Monopol von Acopio längst beendet sein. Eigentlich.

Licht und Schatten

Nicht alles funktioniert schlecht. Die noch von Fidel Castro ins Leben gerufene pharmazeutische und biotechnologische Industrie ist eine kleine Exportlokomotive. Sie könnte noch weitaus besser funktionieren, wenn es die Strangulationspolitik von außen nicht gäbe. Impfstoffe und Medikamente werden bis ins ferne Südkorea exportiert. Doch infolge der Blockade sind Maschinen und Ersatzteile oft nicht zu bekommen, da auch hier potenzielle Lieferanten sofort von Washington unter Druck gesetzt werden. Vor allem bleibt der größte Absatzmarkt direkt vor der nördlichen Haustür verschlossen. Die europäischen Länder reagieren mit der üblichen eurozentrischen Ignoranz auf die cubanischen Produkte. Immerhin kooperieren inzwischen die Abteilung für medizinische Biotechnologie der TU Braunschweig und das CIM Havanna, um das insbesondere bei Speiseröhrenkrebs lebensverlängernde cubanische Medikament Nimotuzumab weiterzuentwickeln, das in 20 Ländern schon eingesetzt wird.

Zurück zur fatalen Energiesituation. Eine Chance wurde vertan, als Russland der Insel 2015 einen Großkredit in Höhe von 1,2 Milliarden US-Dollar für den Bau zweier Stromkraftwerke mit einer geplanten Kapazität von mindestens 800 MW in Aussicht stellte. Doch 2022 gestand die stellvertretende Energieministerin Tatiana Amarán Bogachova, dass die Mittel nie geflossen seien, da Cuba die Voraussetzungen in Gestalt von 10 Prozent Eigenmitteln nicht erfüllen konnte. Andere bewilligte Kredite wurden nicht für die Wartung der bestehenden Anlagen genutzt.

Mittels technischer Optimierungen sollten noch in diesem Jahr mindestens 500 MW gewonnen werden. Und die ersten 30 Photovoltaikparks sind im Bau, von insgesamt 90, die der Insel zusätzliche gut 2000 MW bis 2028 einbringen sollen. Das Megaprojekt ist gewiss das vernünftigste Vorhaben der kubanischen Regierung in den letzten Jahren.

Ist Cuba zu retten, oder kippt es? Degeneriert es gar in der Krise zu einem kleptokratischen Staat wie Ortegas Nicaragua, der für keinerlei progressive Inhalte mehr steht? Noch versucht Cuba, schützende und emanzipatorische Akzente zu setzen, siehe die Coronapolitik, siehe die Stärkung queerer und vulnerabler Gruppen durch das neue Familiengesetz und anderes mehr. Will man den mitunter nur noch schwer erkennbaren humanitären Gehalt des Gesellschaftssystems zurückgewinnen, wird es ohne massive Veränderungen in Richtung Importsubstitution nicht gehen. „It’s the economy, stupid“!

Andreas Hesse besucht die Insel seit 1992 und schreibt seit über zwei Jahrzehnten für verschiedene Medien über Kuba, zuletzt regelmäßig für ila.

Über die ila:
Die Informationsstelle Lateinamerika e. V. (ila) ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz im Oscar-Romero-Haus in Bonn. Das Ziel des Vereins ist die Veröffentlichung kritischer und unabhängiger Informationen aus Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt auf Nachrichten und Hintergrundinformationen aus basisdemokratischer Perspektive. Der Verein besteht seit 1975 und gibt die gleichnamige Zeitschrift ila heraus.

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