Im Februar 2024 wurde Kubas langjähriger Wirtschaftsminister Alejandro Gil seines Amtes enthoben. Wie die kubanischen Abendnachrichten damals in einer kurzen Note bekannt gaben, wurden gegen Gil Ermittlungen aufgrund nicht näher spezifizierter „schwerer Fehler“ eingeleitet. Mit sofortiger Wirkung wurde er aus dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei (PCC) entfernt und legte sein Mandat als Abgeordneter nieder. Die Vermutung damals: Es ging um Korruption.
Rund anderthalb Jahre später war es still geworden um die „Causa Gil“. Pünktlich zu Halloween meldete sich jedoch die Generalstaatsanwaltschaft mit einer Info zum Stand der Ermittlungen zurück. Diese lässt aufhorchen: So wird Gil jetzt nicht nur Fehlverhalten und Korruption, sondern auch Spionage vorgeworfen.
Mehr Fragen als Antworten
Konkret heißt es in der Mitteilung: „Es wurde die Verantwortung für die Straftaten Spionage, Handlungen zum Nachteil der Wirtschaftstätigkeit oder der Auftragsvergabe, Unterschlagung, Bestechung, Fälschung öffentlicher Urkunden, Steuerhinterziehung, Einflussnahme, Geldwäsche, Verstoß gegen die Vorschriften zum Schutz von Verschlusssachen sowie Entwendung und Beschädigung von Dokumenten oder anderen Gegenständen in amtlicher Verwahrung geltend gemacht.“
Über weitere Details hüllen sich die Ermittler noch immer in Schweigen. Dabei wirft die Mitteilung mehr Fragen auf, als dass sie Antworten liefert.
Gil war kein unbeschriebenes Blatt mit Blick auf die Entwicklung des Landes. Der ehemalige Vizeministerpräsident war zwischen 2018 und 2024 für die Wirtschaftsplanung zuständig und leitete die Währungsreform von 2021, die als „Tarea Ordenamiento“ („Ordnungsaufgabe“) bekannt wurde. Diese Reform sollte das Doppelwährungssystem Kubas beenden, erwies sich jedoch als Fehlschlag. Gil war auch ab Ende 2023 für die ersten Sparmaßnahmen zur Stabilisierung der kubanischen Wirtschaft verantwortlich, einschließlich einer Kraftstoffpreiserhöhung um bis zu 400 Prozent.
Gil galt als jovialer Minister, war kommunikationsfreudig (er war nicht nur auf X stärker aktiv als andere, sondern auch bei seinen Kollegen beliebt) und offenbar ein enger Vertrauter von Präsdent Díaz-Canel, mit dessen Präsidentschaft auch Gils Aufstieg verbunden war.
Sollte der Wirtschaftsminister, der über viele Jahre hinweg tiefgreifende Reformen eingeleitet und umgesetzt hat und dabei mit Sicherheit Zugang zu kritischen Informationen und Staatsgeheimnissen hatte, als ausländischer Agent tätig gewesen sein, wirft dies Fragen über die Umstände und Folgen auf. In Kuba wird diese Debatte gerade geführt.
Scharfe Kritik von Journalisten
So äußerte der kubanische Journalist Félix López scharfe Kritik am Timing der Bekanntgabe und stellte unbequeme Fragen zur Regierungsverantwortung. „Alejandro Gil blieb in seinen hohen Führungspositionen und entschied, wie die Wirtschaft und das Leben der Kubaner neu geordnet werden sollte, ohne dass die Geheimdienste und alle seine Nahestehenden merkten, dass er ein Spion war“, schrieb López.
Auch hinterfragte er die Personalpolitik der Regierung: „Wie steht das Ansehen der Vorgesetzten von Alejandro Gil da, dem Kader, der vom Präsidenten Stunden vor seiner Entlassung noch beglückwünscht wurde?“ López wies darauf hin, dass Díaz-Canel sogar als Betreuer für Gils Doktorarbeit fungiert hatte. Der Journalist forderte Aufklärung darüber, wer für die mangelnde Kontrolle verantwortlich sei: „Bis wohin reichen die Verantwortungskreise im Umfeld von Alejandro Gil? Werden wir das erfahren?“
López warnte vor dem Ausmaß, welches die Korruption in den letzten Jahren erreicht habe: „Der schlimmste Feind Kubas ist jetzt die Korruption, vor der Fidel warnte, sie könne die Revolution von innen heraus demontieren.“ Andere Kommentatoren stießen ins selbe Horn und forderten eine lückenlose Aufklärung des Falls. Manche sehen in Gil einen überforderten Minister, der durch politische Loyalität aufstieg und jetzt als Bauernopfer für die Wirtschaftskrise herhalten muss.
Tochter fordert öffentlichen Prozess
In einer überraschenden Wendung meldete sich die Tochter des Angeklagten, Laura María Gil González, in den sozialen Medien zu Wort. Sie forderte vollständige Transparenz im Gerichtsverfahren gegen ihren Vater und verlangte einen öffentlichen, im Fernsehen übertragenen Prozess.
Gil González erklärte, sie habe bisher aus „Respekt vor dem ordentlichen Verfahren“ geschwiegen, um „Volksunmut oder internationale Konflikte“ zu vermeiden. Die jüngsten Entwicklungen hätten sie jedoch zu ihrer „tiefen Bestürzung“ veranlasst, sich zu äußern.
Sie kritisierte, dass die Staatsanwaltschaft nicht genügend Details über die Spionagevorwürfe preisgegeben habe, was „Spekulationen in der Bevölkerung“ gefördert habe. „Was hat er getan, auf welche Länder bezieht sich das, welche Informationen hat er preisgegeben und auf wessen direkten Befehl handelte er?“, fragte sie und forderte die beteiligten Regierungen auf, sich offiziell zu äußern.
Gil betont im Rahmen der Ermittlungen offenbar zumindest teilweise seine Unschuld: „Schließlich bestätige ich als treuer Zeuge dieses Verfahrens, dass Alejandro Gil in seiner Verteidigung standhaft bleibt und unter keinen Umständen ein Verbrechen anerkennen wird, das ihm vorgeworfen wird und das nicht ordnungsgemäß überprüft wird“. Die Tochter versicherte, sowohl sie als auch ihr Vater unterstützten die Forderung nach einem öffentlichen Verfahren mit Anwesenheit nationaler und internationaler Medien. „Nicht nur ich, auch Alejandro Gil fordert das, nicht erst seit heute, sondern seit dem ersten Tag“, schrieb sie.
Gil befindet sich seit seiner Entlassung in Untersuchungshaft. Die Behörden haben bisher weder einen Prozesstermin noch weitere Einzelheiten zu dem Verfahren bekannt gegeben.

