23. Juli 2024

Angesichts der aktuellen Lage: Die richtigen Fragen stellen

Von einer armen, unterentwickelten, stagnierenden, angegriffenen, isolierten Insel zu verlangen, die großen praktischen und theoretischen Probleme des historischen Sozialismus zu lösen, ist nicht nur unmöglich, sondern auch absurd.

Dies wird die Geschichte und die Welt wahrscheinlich in einem langen Zeitraum lösen.
Die Bedingungen für den Sozialismus in Kuba könnten nicht schlechter sein: ein unterentwickeltes Land, kaum Industrie, rückständige Landwirtschaft und obendrein allein, isoliert inmitten der westlichen Welt, ohne große internationale Allianzen.

Bedeutet das, dass man auf den Sozialismus in Kuba verzichten muss? Offensichtlich nicht! Wir müssen nichts aufgeben, die Geschichte hat uns bis hierher gebracht. Aber man muss die Füße auf dem Boden behalten, die Realitäten anerkennen und sich klar machen, was der Sozialismus in diesem Land, in dieser schwierigen Zeit sein kann. Dabei muss man sich die richtigen Fragen stellen und sie gut beantworten. Das Wesentliche ist, die Souveränität des Landes, die soziale Gerechtigkeit zu bewahren und einen Weg aus dem Sumpf zu finden, in den die Wirtschaft geraten ist.

Die kubanische Wirtschaft hat ihre Wachstumsfähigkeit verloren und ist daher zu einer Maschine geworden, die Armut und Schwierigkeiten aller Art erzeugt. Das muss gelöst werden, und man muss sich dabei von theoretischen Eitelkeiten verabschieden. Natürlich darf man nicht nur praktisch, sondern muss auch theoretisch sein, jedoch ohne Orthodoxie und „Zitologie“. Der Blick muss auf die Geschichte dieses konkreten Landes gerichtet sein, man muss das Land und seine Entwicklung vor allem seit dem 19. Jahrhundert bis heute überdenken.

Die sowjetischen Handbücher und auch eine schlechte und dekontextualisierte Lesart der klassischen Denker und Anführer des historischen Sozialismus haben einigen Schaden angerichtet. Und davon gibt es noch immer genug, wie wir häufig in den Massenmedien sehen. Man muss verstehen, dass die heutige Welt nicht die Welt von vor 60, 50 oder 30 Jahren ist.

Sozialismus ja!, aber ohne leere Eitelkeiten und Spinnweben, und ohne zuzulassen, dass die progressive Welt von Kuba verlangt, die theoretischen und historischen Probleme des Sozialismus zu lösen. Ich glaube, so begann auch der Aufschwung in China und Vietnam. Sie stellten sich die richtigen Fragen für ihre Situation. Egal wie man es betrachtet und mit allen notwendigen und möglichen Debatten, beide haben die Wirtschaft enorm dynamisiert und Millionen aus der Armut geholt, die in den vorangegangenen Jahren herrschte. Natürlich stehen sie nicht unter einer Blockade, haben Ressourcen, Skaleneffekte, etc., daher bedeutet das Berücksichtigen ihrer Erfahrungen nicht, sie zu kopieren – das ist klar.

Jetzt werde ich meine Schlussfolgerungen aus den letzten Tagen und den vorgelegten Berichten darlegen.

Mit der Zerschlagung des Zuckersektors, der Krise des Tourismus, der demografischen Krise, den unkontrollierten Ungleichgewichten, der Summe aller Fehler, der weit verbreiteten Korruption auf vielen Ebenen, den Menschen, die aufgrund der Energieprobleme von zu Hause aus arbeiten müssen, der zerstörten Infrastruktur, der unbezahlten Schulden und der verstärkten Effektivität der Blockade hat diese Wirtschaft ihre Wachstumsfähigkeit verloren. Ohne eine radikale, durchdachte und umfassend gestaltete Veränderung ist es sehr schwierig, sie wiederzuerlangen. Das ist unerlässlich, jenseits der Reden, und das sieht man nirgendwo richtig, das ist die ehrlich und schmerzlich formulierte Realität. Trotzdem muss man bis zum letzten Atemzug darauf bestehen, einen Weg des sozialistischen Wohlstands für dieses Land zu finden – aber sehr kubanisch!

Oftmals haben wir unsere Überlegungen und Vorschläge zur umfassenden Reform des Wirtschaftsmodells im Detail dargelegt, um sie zur Diskussion zu stellen: die makroökonomischen Gleichgewichte wiederherstellen, Wege finden, die Schulden zu senken und Kredite aufzutun, das System der landwirtschaftlichen Produktion zu reformieren, die staatlichen Unternehmen tiefgreifend zu reformieren – nicht, damit sie nicht mehr öffentlich sind, sondern damit sie nicht mehr ineffizient sind – alle Märkte und alle Wirtschaftsakteure in eine einheitliche Dynamik integrieren (das sozialistische ist das System, nicht eine bestimmte Unternehmensform), den Charakter der bürokratischen Planung ändern, die Prioritäten der Investitionspolitik ändern, die Infrastruktur in Angriff nehmen, die sozialen Politiken effektiver gestalten usw. – und all das mit der angemessenen Reihenfolge und Dringlichkeit. Man darf nicht vergessen, dass es wahrscheinlich ist, dass wir bald mit einer noch aggressiveren US-amerikanischen Regierung umgehen müssen. Die wirtschaftlichen Bedingungen der Bevölkerung zu verbessern, ist wesentlich, um diesem Szenario zu begegnen.

Das ist noch einmal meine kurze Schlussfolgerung aus all dem, was ich in den letzten Tagen über die aktuelle Lage des Landes gesehen habe, basierend auf den Informationen, Statistiken und vorgelegten Belegen.

Ein Kommentar des kubanischen Ökonomen Julio Carranza über die jüngst zu Ende gegangene Sitzung der kubanischen Nationalversammlung. Erstmals veröffentlicht auf dem Blog des Liedermachers Silvio Rodríguez, „Segunda Cita“.

Teilen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert