20. Mai 2024

Zum Bleiben braucht es Mehl: Warum Menschen Cuba verlassen – oder zurückkehren

Ein Gastbeitrag von Andreas Hesse.

Große deutsche Medien sprechen selten über Cuba. Doch Mitte März schafften es Bilder aus Santiago in die Schlagzeilen von Spiegel, Zeit und Co. „Wir haben Hunger“, skandierten mehrere hundert Menschen auf den Straßen, sie forderten Strom, Treibstoff, Nahrung. Der ständige Krieg gegen die Insel und der Kampf gegen den wirtschaftlichen Niedergang zehren an den Nerven der Menschen. Klar, dass viele das Land verlassen. Doch einige Cubaner*innen kommen auch zurück. Was treibt sie an?

Auf den ersten Blick haben sie nicht viel miteinander zu tun. Aber die unterschiedlichen Ereignisse der letzten Monate zeigen: Auf und um Cuba gibt es harte Konfrontationen.

2. November 2023: Die Generalversammlung der Vereinten Nationen stimmte zum 31. Mal für das Ende der US-Blockade gegen Cuba, mit 187 gegen zwei Stimmen (USA, Israel). Folgen: keine. Die deutsche Medienlandschaft, die im Allgemeinen sehr genau die UN-Resolutionen verfolgt, reagierte mit kollektivem Schweigen.

Ende Januar legten zwei ausländische Cyberattacken auf Institutionen der Insel wesentliche Bereiche lahm. Es traf den Finanzdienstleister Fincimex, über den ein Großteil der Geldüberweisungen aus den USA abgewickelt wird. Etwa zwei Monate war er außer Kraft gesetzt. Sodann traf es das System der Treibstoffversorgung, so dass die drastischen Preiserhöhungen beim Benzin erst einen Monat später als geplant in Kraft treten konnten. Das wiederum war der leidgeprüften Bevölkerung nicht unrecht…

Anfang Februar wurden 133 Tonnen rationiertes Hühnchenfleisch aus einer staatlichen Fabrik in Havanna gestohlen, der spektakulärste Lebensmittelraub in der Geschichte des Landes. Die Urheber des Ganovenstücks wurden erwischt. Es waren Schichtleiter, IT-Mitarbeiter und Sicherheitskräfte aus der Fabrik. Die Medien des Landes verschwiegen den Vorfall nicht wie früher, im Gegenteil. Die Botschaft sollte lauten: „Wir kriegen euch.“

20. Februar: Die in Spanien ansässigen, aber aus dem US-Staatssäckel unterstützten, „Prisoners Defenders“ und deren Chef J. Larrondo hatten José Manzaneda vom Solidaritätsmedium „Cubainformación“ sowie Vertreter der Organisation „Euskadi – Cuba“ vor den Kadi gezerrt. Cubainformación, das die völkerrechtswidrige Blockade der Insel durch Washington als Krieg gegen Cuba bezeichnet, hatte in einem Artikel die leidenschaftlichen Blockadeverfechter*innen von Prisoners Defenders als „Kriegsverbrecher wie Donald Trump“ bezeichnet. Dafür wurden seitens der klagenden Organisation wegen behaupteter Verleumdung nun sechs Jahre Haft für Manzaneda und Kollegen gefordert, womit letztlich die Schließung des unliebsamen gegnerischen Mediums erzwungen werden sollte. Das 31. Strafgericht in Madrid bereitete nun den nach eigenem Verständnis „anticastristischen“ Klägern eine krachende Niederlage und brummte ihnen wegen der „Tollkühnheit und Unredlichkeit“ der Klage die Verfahrenskosten auf. Manzaneda und Kollegen wurden von allen Vorwürfen entlastet. Der inkriminierte Begriff, so das Gericht, sei im Kontext des verfassten Artikels höchstens als Hyperbel, als übertriebener Vergleich, zu werten. Auf der reißerischen Homepage von Prisoners Defenders findet sich zum peinlichen Scheitern bei Gericht bis heute kein Wort. Dass einer – laut Selbstdarstellung – Menschenrechtsorganisation gerichtlich attestiert wird, die Meinungsfreiheit politischer Gegner nicht zu respektieren, ist pikant.

Im März nahmen die Stromsperren wieder drastisch zu. Hintergrund waren zum einen fehlende Importkapazitäten für Erdöl, zum anderen wurde das Kraftwerk Antonio Guiteras, größter Stromerzeuger der Insel, wegen notwendiger Wartungsarbeiten vom Netz genommen. In der Provinz fehlte der Strom teilweise bis zu 18 Stunden täglich, ein erneuter Stresstest für die geplagte Bevölkerung.

5. März: Die französische Biathlon-Weltmeisterin Sophie Chauveau erklärte, die Einreise in die USA zur Teilnahme am Weltcup in Utah sei ihr verweigert worden, weil sie einen Urlaub auf Cuba verbracht habe.

Am 7. März teilte Havanna mit, gegen den gerade einen Monat zuvor als Wirtschaftsminister entlassenen Alejandro Gil Fernández werde wegen schwerer Vergehen gegen seine Amtspflichten ermittelt. Die Nachricht war eine Bombe, doch offizielle Details wurden noch nicht genannt. Laut Gerüchteküche sollen der Exminister und mehrere Familienangehörige in einen schweren Korruptionsfall in der Provinzhauptstadt Ciego de Ávila verwickelt sein.

„Komm‘ bloß nicht hierher“

Was die Beispiele zeigen: Auf allen Haupt- und Nebenkriegsschauplätzen geht es hoch her. Die geschlauchte Inselbevölkerung sucht in diesem permanenten Ausnahmezustand ihr Heil mal in der Eröffnung kleiner Unternehmen, mal in Schwarzmarktgeschäften, Delinquenz, Korruption oder dem Ausnehmen des eigenen Betriebs. Und in der Migration.

Es ist bekannt, dass die Insel demographisch austrocknet und mehr als eine halbe Million Cubaner*innen seit 2021 migriert sind, meist in die USA. Nur eine kleine Minderheit versucht es noch als „balseros“ auf dem Seeweg. Stärker frequentiert ist der Landweg, zum Beispiel visumsfrei nach Nicaragua und dann nach Norden. Bisher haben 75000 Personen im Rahmen des Programms „parole humanitario“ eine*n Paten/Patin in den Staaten, der*die eine privilegierte Übersiedlung und Eingliederung durch materielle Unterstützung ermöglicht. Unter den Auswander*innen sind Menschen, die den Status Quo als so traumatisierend empfinden, dass sie den Glauben an Besserung oder an die Revolution verloren haben. Doch ebenso gibt es Menschen, die ihren Migrationsstatus als temporär ansehen und zurück wollen, sobald sie genügend angespart haben. Auch sind nicht alle dort, wo sie gelandet sind, mit ihrem Schicksal zufrieden. Für Adrian, 29 Jahre und beschäftigt in einem privaten Tante-Emma-Laden in Santiago de Cuba, steht außer Frage, dass er in Cuba bleibt. Er erzählt von seiner besten Freundin, die vor zwei Jahren in die USA gegangen ist: „Sie schreibt: Komm’ bloß nicht hierher. Das Geld geht komplett für Miete und Essen drauf. Ich bin in zwei Jahren kein einziges Mal ausgegangen. Was ist das für ein Leben hier?“ Ein anderer Ausgewanderter war früher als Geschäftemacher mit legalen – um der Fassade willen – wie Schwarzmarktgeschäften der ungekrönte König in seinem Dorf, wollte aber mehr und wanderte aus. Heute komme er in Florida zwar irgendwie durch, habe aber als Putzkraft seine frühere Stellung im sozialen Gefüge verloren und sei zu einem Niemand geworden.

Solche Erzählungen existieren in unendlichen Variationen. Mit dem politischen Hass und der extremen Intoleranz des Exils in Florida gehen die Einwander*innen unterschiedlich um. Manche passen sich problemlos an; andere entwickeln Störgefühle, die sie mit der neuen Heimat fremdeln lassen, denn es gebe dort auch keine Meinungsfreiheit, man müsse aufpassen, was man sage. Auch bekannte Künstler*innen können scheitern: Als der Spielfilm „Sergio und Sergej“ (2017) von Ernesto Daranas in den USA präsentiert wurde, setzte sich der Protagonist und in Cuba recht populäre Fernseh- und Kinodarsteller Tómas Cao ab. Seine Hollywoodträume erfüllten sich nicht. 2018 tauchte Cao noch in einer US-Fernsehserie auf, dann war Schluss. Zuletzt sei er als Angestellter eines Supermarkts in Florida gesehen worden. Der cubanische Musiker „El Médico de la Salsa“ lebte zeitweise in Miami und bezeichnete die Stadt einst als Friedhof für cubanische Künstler*innen. Das ewige Wechselspiel zwischen Faszination des Westens und Desillusionierung: der Sehnsuchtsort als Hort von Fassade und schönem Schein.

Mehl für alle?

Wenn Rückkehrwillige (es gibt sie auch jetzt!) mit der Selbstständigkeit liebäugeln, wünschen sie sich Rechts- und Planungssicherheit. Das ist im Cuba der verselbstständigten Monsterbürokratie nicht ganz einfach.

Ein Beispiel: Der Staat ist in der schweren aktuellen Krise derartig klamm, dass er für den Monat März nicht genug Mehl für das subventionierte Brot der Bevölkerung importieren kann, und das obwohl der Weizenpreis auf dem Weltmarkt gefallen ist. Somit kratzen Leute ihr letztes Geld zusammen, um teurer bei MIPYMES (MIcro-, Pequeñas Y Medianas EmpresaS; Mikro-, kleine und mittlere Unternehmen) zu kaufen und somit wenigstens über Brot zu verfügen. In der Provinz Santiago wurde verfügt, dass dort, wo das subventionierte Brot nicht mehr hinkommt, auch die Privaten kein Brot mehr backen dürfen. Der Staat will stattdessen die MIPYMES „kapern“ und dort zu seinen Konditionen mit deren Mehlvorrat produzieren, sei es, um die Inflation nicht weiter zu treiben, oder sei es aus Gründen von Gesichtswahrung. Selbst wenn der Staat die Betriebe nur temporär übernimmt, würden die Eigentümer*innen der MIPYMES ihre hohe Investition für Kauf und Transport des Mehls verlieren. Weil sie das als Vertragsbruch durch die Provinzregierung empfinden, widersetzen sie sich dem Plan und bestreiken sozusagen die eigenen Betriebe. Leidtragend ist die schäumende Bevölkerung, die nun weder da noch dort ihr Brot findet.

Der Vorfall zeigt, wie eine kafkaeske Bürokratie sich nicht von selbst geschlagen gibt, vielmehr existiert ein Hin und Her zwischen dem Eindämmen und dem Wiederaufflackern bürokratischer Auswüchse. Kann man mit einem Zurück in eine alte Überregulierungskultur das Land wieder zum Laufen bringen, Vertrauen zurückgewinnen und Menschen zum Bleiben oder zur Rückkehr bewegen? Eine rhetorische Frage.

Der Lebensstandard kennt seit Beginn der Pandemie nur eine Richtung: nach unten. Die harsche Reaktion des im Abwehrkampf befindlichen Staates auf die Proteste des 11. Juli 2021 war insbesondere für Angehörige der jüngeren Generation ein Schock. Politische Resignation ist neben dem wirtschaftlichen Kollaps ein Hauptgrund für die Migration bei den Jüngeren.

Gibt es Aussicht, dass sich im Jahresverlauf etwas zum Besseren verändern könnte? Zumindest kamen im Januar etwas mehr Tourist*innen als im Vorjahr. Es besteht Hoffnung auf neue Abkommen zum Export von Medikamenten und ärztlichen Dienstleistungen. Soeben weilte eine Großdelegation des ägyptischen Gesundheitsministeriums auf der Insel. Auch liegt die landwirtschaftliche Produktion nicht flächendeckend brach. In manchen Kommunen nimmt man den Appell zur Eigenverantwortung für die Produktion wohl ernster als anderswo. Es geht darum, „best practice“-Beispiele zu verallgemeinern. Zwei große neue Photovoltaikparks gehen im März ans Netz, weitere folgen bis Mai 2025. Der zuletzt vor sich hindümpelnde Weltmarktpreis des Hauptexportprodukts Nickel scheint sich langsam wieder auf den Weg nach oben zu machen, auch beim Tabak läuft’s gut. Wird das reichen? Und werden die Reformbemühungen greifen? Die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber bis mehr Menschen zurückkommen als die Insel verlassen, wird viel Zeit vergehen.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 474 April 2024, mit freundlicher Genehmigung des Autors in Rücksprache mit dem Verlag. Einige Links wurden nachträglich eingefügt.

Andreas Hesse besucht die Insel seit 1992 und schreibt seit über zwei Jahrzehnten für verschiedene Medien über Kuba, zuletzt regelmäßig für ila.

Über die ila:
Die Informationsstelle Lateinamerika e. V. (ila) ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz im Oscar-Romero-Haus in Bonn. Das Ziel des Vereins ist die Veröffentlichung kritischer und unabhängiger Informationen aus Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt auf Nachrichten und Hintergrundinformationen aus basisdemokratischer Perspektive. Der Verein besteht seit 1975 und gibt die gleichnamige Zeitschrift ila heraus.

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7 Gedanken zu “Zum Bleiben braucht es Mehl: Warum Menschen Cuba verlassen – oder zurückkehren

  1. Offensichtlich hegt der Autor dieses Artikels Sympathien für die Castro-Diktatur. Kein Wort über die politischen Gefangenen oder die Repressalien gegenüber Journalisten, Künstler oder Intellektuellen. Die Story dass Leute freiwillig nach Kuba zurückkehren würden ist ebenfalls sehr fragwürdig.

    1. Sehe ich genauso. Allenfalls in den USA Gestrandete, die das Arbeiten nicht gewohnt sind oder jene, die eine Möglichkeit sehen, Geld in Cuba zu verdienen, ziehen das vielleicht in Erwägung. Nennenswerte Mengen dürften das vor dem Hintergrund der Abwanderungszahlen kaum sein. Andreas Hesse hängt sich da lieber an der Ausnahme auf und sucht das Haar in der Suppe, wenn es um Opposition in Kuba geht, wie auch sein Beitrag auf der ILA-Seite zum „Patria y Vida“ Song zeigt.
      Hesse macht es einem schwer, ihm Neutralität abzunehmen, wenn er nicht umhin kommt, bei Prisoners Defenders in den Mittelpunkt zu stellen, dass sie auch Gelder aus US-amerikanischen Töpfen beziehen, statt ihre sich mit ihrer Arbeit auseinanderzusetzen. Dass es einen ideellen Kampf gegen das Regime und dessen denkfaule, blind solidarische Unterstützer in der EU zu gewinnen gibt, die hier kubanische Staats-Propaganda verbreiten, so wie in Spanien eben cubainformacion.tv oder wie hier „Cuba Si“, die so genannte „Freundschaftsgesellschaft“ und eben „Netzwerk Cuba“, liegt in der Natur des Sache.
      Auch die Exilanten in der USA werden als intolerant abgestempelt, dabei ist ihr schlichtes Gemüt in Bezug auf politisch gesellschaftliche Zusammenhänge auch Resultat kubanischer Erziehung. Dass sie es satt haben könnten, andauernd moralisch vom Regime zur Fürsorge erpresst und bei Reisen und der Verlängerung der Proroga vom Regime gedemütigt zu werden, kommt in seiner Welt nicht vor. Sie setzen eben doch lieber auf radikale Erlöser, mit denen sie personell nicht in einen Zusammenhang gestellt werden können, das ist dann halt die einfachste Art und Weise, ohne persönliche Nachteile für sich und die Familie erdulden zu müssen, etwas gegen das Regime zu tun, in dessen Klauen sie sich noch immer wähnen.

      Ich will aber wohlwollend bemerken, dass er wenigstens eine politische Desillusionierung der Jugend erkennt, die auch zur Ausreise treibt und, dass er zwischen der Desillusionierung und dem Umgang des Regimes mit Protestierenden und deren Verurteilung zu drastischsten Gefängnisstrafen in einen direkten Zusammenhang stellt.
      Bisherige Kommentatoren stellten das Verlassen der Insel nur zu gern monokausal in den Zusammenhang mit den „Konsum-Verlockungen“ und der „subversiven Propaganda“ des „Imperiums“ und legten nahe, dass es sich um reine Wirtschaftsflüchtlinge handeln würde. Dabei ist in Cuba fast nichts politischer als die Ernährung, die zur Zeit eigentlich keine ist. Und wirtschaftliche (Fehl)Entwicklungen korrespondieren selbstverständlich mit politischen Entscheidungen und den Zukunftsperspektiven. Das Regime hat letztere nicht zu bieten.

      1. Lieber Auggie Wren (oder wer auch immer sich da unter dem Schutz des Pseudonyms versteckt),

        dass mein Artikel Dir – bis auf die Anmerkung zur kubanischen Jugend – nicht zusagt, ist mir klar und wäre es anders, müsste ich mir wohl Gedanken machen. Du erweckst ja seit Jahren den Eindruck, dass Du mit missionarischem Eifer aber eher schlichter Botschaft durch die einschlägigen Kubaforen dieser Republik tingelst. Das ist auf Dauer langweilig, da unterkomplex. Mein Ding ist das jedenfalls nicht, ich habe kein Interesse an einer apodiktisch daherkommenden Bekenntnisprosa. Mir ist die Auseinandersetzung wichtiger als das „Missionieren wollen“. Deswegen habe ich kein Problem damit, trotz vorhandener Grundsympathie für die kubanische Revolution mich auch an schmerzhaften Themen abzuarbeiten: ob der 11. Juli und seine Folgen, Korruption, Zensur oder die neue soziale Ungleichheit etc., womit ich mir nicht immer nur Freunde gemacht habe. Auf der anderen Seite steht Kuba entgegen der landläufigen Meinung keineswegs einfach für Stagnation: ob nun die mit sehr begrenzten Ressourcen entwickelten hochwirksamen Impfstoffe oder ein aus menschenrechtlicher Sicht äußerst progressives neues Familiengesetz, um nur mal kurz zwei Beispiele anzutippen, Liste lässt sich verlängern. Ach ja, die weit fortgeschrittene innere Radikalisierung der Protagonisten des Exils halte ich in der Tat für besorgniserregend, den Einfluss dieser Eskalationskrieger auf die ohnehin schon rein destruktive US-Politik für fatal. Eine Brandmauer nach rechts außen gibt es in dieser Szene schon lange nicht mehr. Die Übernahme der genormten formelhaften Sprache dieses radikalen Exils, die ja auch in einem anderen Posting hier zu finden ist („Castro Diktatur“), verhindert eigenständiges Denken und soll das auch.
        Auggie oder wie er die Welt sieht: dem Anschein nach gibt es da nur schwarz/weiß, keine Grautöne, keine Facetten, keine Zwischentöne, nur Bekehrungseifer. Die Botschaft („alles, aber auch wirklich alles in Kuba ist negativ“) muss der Umwelt immer aufs Neue eingehämmert werden, vielleicht hat es ja jemand noch nicht verstanden. Das wirkt schon ziemlich skurril (nicht nur auf mich). Komplexitätsreduktion als Programm?
        Ich gebe hingegen zu, dass ich selbst mit einer Einschätzung auch mal irren kann und habe grundsätzlich vielleicht eher Fragen als Antworten. Mein Credo ist klar: wer glaubt, Kuba verstanden zu haben, hat keine Fragen mehr. Wer aber keine Fragen hat, hat nichts verstanden.

        1. Lieber Andreas, du bezeichnest meine Aussage „Castro Diktatur“als genormte formelhafte Sprache . Mal andersherum gefragt: Wie würdest du eine Regierungsform bezeichnen die 1100 politische Gefangene unter erbärmlichen Verhältnissen einsperrt. Ihre Verbrechen: Verachtung, Volksverhetzung, demonstriert zu haben, die falsche Kunst kreieren, eine eigene Meinung zu haben, das Wörter Libertad oder Patria y Vida zu verwenden und vieles mehr. Dir ist das sicher alles bestens bekannt als Kubakenner. Ein junger Bekannter erhielt 6 Jahre Hausarrest wg Verachtung weil er im Stadtpark in B. mit anderen jungen Leuten über die schlechte Busverbindung nach Havanna diskutiert hat. Er verlor seinen Studienplatz an der Musikhochschule, obwohl er ein äußerst begabter Pianist ist. Wieder eine Karriere vernichtet wegen nichts. Diktatur ja oder nein? Vielen Dank für deine Antwort.

          Kuba, ein richtungsloses Land in den Händen einer Diktatur ohne Kompass (Zitat von Rafaela Cruz).

          1. Lieber Lothar Wiedmann,

            danke für Deine Antwort.

            Vor ungefähr einem Dutzend Jahren oder mehr stellte der kubanische Ökonom Juan Triana Cordoví aus Havanna heraus, dass als direkte Folge der unter Präsident Eisenhower ins Leben gerufenen und in den folgenden Jahrzehnten immer weiter verschärften obsessiven US-Strangulationspolitik gegenüber Kuba sich auf der Insel im Rahmen dieser Konfrontationslogik eine Wagenburgmentalität herausbildete, die zu systemischen Dysfunktionalitäten im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich führte und führen musste. Dabei wusste er damals noch nicht, dass Jahre später die scheidende Trump Administration als vergiftetes Abschiedsgeschenk für Kuba einen ganz besondere Pfeil im Köcher haben würde: die komplett willkürliche Aufnahme Kubas auf die Liste „terrorismusunterstützender Staaten“, was von einem Tag auf den anderen der Insel einen die Vorstellungskraft übersteigenden wirtschaftlichen Schaden zufügte. Kuba reagierte mit innerer Verhärtung.
            Was war also zuerst da: repressiver Staat oder die längste Wirtschaftsblockade in der Geschichte der Menschheit? Für die „Welt“ ist die Sache klar. Wenn man Washington gnädig stimmen wolle, müsse man doch nur die nach dem Aufstand vom 11.Juli 2021 Verurteilten freilassen. So kann man es sehen, muss man aber nicht. Arturo Lopez-Levy, Experte für Außenbeziehungen von der Autonomen Universität Madrid erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur REUTERS, dass die Freilassung der Gefangenen sehr schwierig sein werde, solange die USA ihre feindselige Politik zu grundlegenden Fragen aufrechterhielten. In der Tat: die idealistische Fraktion in der US-Politik, die auf deeskalierende Signale reagiert und ihrerseits deeskaliert, war immer eine Minderheit und übte nur in der Ära Obama kurzzeitig einen gewissen Einfluss aus, parteiübergreifend war fast immer die andere, die ideologische Fraktion die bestimmende und ist es auch bis jetzt. Hier ist die innere Logik eine konträre: es soll jegliche Entwicklung, die Cuba lebensfähig oder gar attraktiv erscheinen lassen könnte, per Anlegen der Daumenschrauben verhindert werden. Das ist exakt der Ursprung und Sinn der Blockadepolitik, genau mit diesem Ziel wurde sie erstmalig vor mehr als 60 Jahren verhängt.
            Man würde sich einen souveräneren Umgang Havannas mit der Daueraggression seitens der mächtigsten Macht der Welt wünschen, aber das ist ziemlich leicht daher gesagt. Wenigstens hat man auf die Proteste in Santiago deutlich zurückhaltender reagiert.
            Die Zyniker in Washington und Miami hingegen nehmen eine innere Verhärtung auf der Insel nicht nur in Kauf, sondern führen sie ganz gezielt herbei. Dies gilt ebenso für die Versorgungsengpässe, die auf interne Fehlsteuerungen und auf den Aushungerungsdruck von außen zurückgeführt werden können. Versucht man aber nun heute etwas aufzubauen oder neue Wege zu gehen, wird es durch die subversiven Bemühungen aus dem Norden oft wieder zerstört oder blockiert. Beispiele gibt es reichlich. Ausbaden dürfen es die Menschen.
            Manche weigern sich hierzulande, eine Verhärtung überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, andere weigern sich, diese zu kontextualisieren. Führt das eine wie das andere zu irgendwelchen Erkenntnisgewinnen? Von der Einschätzung des Begriffs „Castro Diktatur“ als genormte formelhafte Schablonensprache, die keinen Erkenntnisgewinn ermöglicht, sondern Erkenntnis verhindert und verhindern soll, habe ich nichts zurückzunehmen.
            Eine schrittweise Aufhebung der Blockadegesetzgebung (auf einen Schlag geht es nicht, weil sich die entsprechenden Bestimungen durch verschiedene Gesetze und Dekrete ziehen), würde insbesondere den wirtschaftspolitischen (vor allem wenn die extraterritoriale Wirkung auf Drittländer weg wäre) und nicht zuletzt eben auch den innenpolitischen Handlungsspielraum enorm erweitern. Was kann man sich mehr wünschen?
            Viele Grüße,
            Andreas
            P.S. Auch auf die Gefahr hin, dass mir jetzt das Modewort des „Whataboutism“ um die Ohren gehauen wird, sei darauf verwiesen, dass ungefähr zeitgleich zum 11.Juli 2021 die Hungerrevolten unter der früheren kolumbianischen Regierung stattfanden. Dort wurden keine Gefangenen gemacht (bzw. nicht nur), nein, lieber erschoss man die Demonstranten gleich. Noch heute interessiert sich die Weltpresse für den 11. Juli in Kuba, das Staatsverbrechen in Kolumbien mit über 70 erschossenen Menschen verschwand nach wenigen Wochen vom Radarschirm der Öffentlichkeit. Immer noch bestimmen die Machtstrukturen dieser Welt, was eine Nachricht wert ist und was nicht. Mir liegt daran, das zynische Messen mit zweierlei Maß zu denunzieren. Ich komme gegen diese Machtstrukturen ganz sicher nicht an, erlaube mir aber hier und da noch eigenständige Gedanken jenseits eines medialen Einheitsbreis.

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