11. Oktober 2024

Julio Carranza: „Die Widersprüche häufen sich“

In einer Analyse der aktuellen Situation in Kuba warnt der Ökonom Julio Carranza vor den mindestens drei Krisen, mit denen die Insel konfrontiert sei: „Eine makroökonomische, eine Wachstumskrise und eine Krise des Wirtschaftsmodells“, so Carranza.

Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Regionalberater der Unesco erklärte in einem Interview mit dem Magazin OnCuba, dass das Land darüber hinaus auch mit Infrastrukturproblemen, einer angespannten demografischen Situation und Problemen bei der Stromerzeugung zu kämpfen habe.

Carranza wies in dem Gespräch darauf hin, dass das internationale Umfeld für Kuba ungünstig sei. „Wir haben nicht mehr die großen internationalen Allianzen wie in der Vergangenheit. Es gibt viele befreundete Länder, gute Beziehungen zu vielen Staaten, aber Allianzen, die zum Beispiel eine signifikante wirtschaftliche Vorzugsbehandlung bedeuten, gibt es derzeit nicht, abgesehen von der wichtigen Beziehung zu Venezuela“.

Auch die Bedingungen, welche die wirtschaftliche Realität der Insel in den letzten 60 Jahren geprägt haben, bleiben bestehen. „Kuba ist ein kleines Land mit begrenzten natürlichen Ressourcen, das sich in einer sehr komplizierten geopolitischen Region befindet, in der Nähe der Vereinigten Staaten, einer Großmacht mit einer äußerst feindlichen Politik“, sagte er.

„Wenn die Situation so kompliziert ist wie in Kuba, eine Lage, die auf historische Faktoren unterschiedlicher Art zurückzuführen ist und sich in einer wirtschaftlichen und sozialen Krise manifestiert, besteht die strategische Lösung darin, eine grundlegende Transformation des Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells vorzunehmen“, so Carranza.

Der Horizont dieser Reform müsse sozialistisch sein. Allerdings müsse definiert werden, was Sozialismus unter kubanischen Bedingungen bedeute. „Die starren Schemata des historischen Sozialismus sind nicht geeignet, dieses Problem zu lösen“, sagte Carranza.

Das Herz der Reform

Carranza betont, dass die Debatte zwischen den verschiedenen sozialen Akteuren der Schlüssel zur Veränderung der wirtschaftlichen Realität ist.

Die Staatsbetriebe müssen für Carranza im Zentrum einer umfassenden Reform der kubanischen Wirtschaft stehen (Quelle: Cubadebate)

„Ökonomie ist eine Sozialwissenschaft, denn sie untersucht nicht die Beziehungen zwischen Dingen, sondern zwischen Menschen. Deshalb muss die Diskussion über die Wirtschaft offener, partizipativer und für die Menschen verständlicher werden, vor allem in Zeiten der Krise und der notwendigen Veränderungen“, erklärte er.

Carranza ist der Ansicht, dass die sogenannten sozialistischen Staatsbetriebe und die landwirtschaftliche Produktion das „Herzstück der umfassenden Reform“ sein sollten.

„Wir haben ein Unternehmenssystem, das, mit wenigen Ausnahmen, im wesentlichen ineffizient ist – und eben genau dieses Unternehmenssystem macht den größten Teil unserer Wirtschaft aus. Die Unternehmen müssen transformiert werden, nicht um ihren staatlichen Charakter zu verändern, sondern um sie effizienter zu machen. Dafür müssen sie mit größerer Autonomie in den Markt integriert werden“, sagte er.

Er erklärte, dass es notwendig sei, für Wettbewerbsfähigkeit zu sorgen und von einer bürokratischen und administrativen Planung der Ressourcenzuweisung zu einer stärker finanziellen und indikativen Planung überzugehen. „Das Festhalten an den Planungsformen der ehemaligen sozialistischen Länder Europas wäre ein Wahnsinn, der uns sehr teuer zu stehen kommen könnte“, sagte er.

Carranza sprach sich auch gegen die Bezeichnung der staatlichen Unternehmen auf der Insel aus. „Ich ziehe es vor, sie öffentlich zu nennen. Wenn man in einem Land wie Kuba von ’sozialistischen Staatsunternehmen‘ spricht, will man damit sagen, dass die anderen kapitalistisch sind, was den Privatsektor in eine systemfeindliche Logik bringt, die Vorurteile schafft“, sagte er.

„Was sozialistisch oder kapitalistisch ist, ist das System, das sie integriert, die Art und Weise, wie die Märkte reguliert werden, wie der gesellschaftliche Reichtum umverteilt wird, wie die Beteiligung des Volkes aufrechterhalten wird und wie die Macht des Volkes durch demokratische Institutionen aufrechterhalten wird“, betonte er.

In Bezug auf die Landwirtschaft sagte der Wirtschaftswissenschaftler, dass es in diesem Sektor viele Einschränkungen gebe, die man mit einer Liste von Maßnahmen zu lösen versucht habe. „Aber was notwendig ist, ist eine Veränderung der Art und Weise, wie Lebensmittel in Kuba produziert werden“.

Seiner Meinung nach würde diese Veränderung eine Diskussion über die Rolle des Privatsektors in der Landwirtschaft mit sich bringen.

„Der größte Teil der Nahrungsmittel wird vom Privatsektor produziert, der jedoch mit vielen Einschränkungen zu kämpfen hat. Angefangen von den Genossenschaftsstrukturen, die per Definition zwar nicht schlecht sind, aber nicht gut funktionieren, bis hin zum Zugang zu konkreten Produktionsbedingungen, einschließlich des Bodens“, sagte er.

Carranza kritisierte auch das Ungleichgewicht der kubanischen Investitionen und dessen Auswirkungen auf den Sektor.

„Die Investitionspolitik scheint eindeutig nicht den grundlegenden Prioritäten des Landes zu entsprechen, da mehr als 30 Prozent der Investitionen auf den Immobilien- und Hotelsektor und weniger als 3 Prozent auf die Landwirtschaft entfallen. Auch in anderen wichtigen Sektoren wie Gesundheit und Bildung ist sie unzureichend“, kommentierte er.

Das bedeute, so der Ökonom, dass knappe nationale Ressourcen in den Tourismus investiert würden, obwohl dieser Sektor derzeit nicht in der Lage sei, diese Investitionen zurückzuzahlen. Währenddessen fehle es der Landwirtschaft an Kapital.

Investitionen in Kuba auf Basis des Statistischen Jahrbuches (ONEI), 2019-2023 (Quelle: OnCuba)

Kuba wächst nicht

„Eines der kritischsten Probleme der kubanischen Wirtschaft ist, dass sie ihre Wachstumsfähigkeit verloren hat, also ihr Produktionspotential, ihr Potential zur Erhöhung des Angebots von Produkten und Dienstleistungen“, versicherte Carranza.

Tatsächlich ist die Wirtschaft der Insel im Jahr 2023 um 1,9 Prozent geschrumpft. Der Ökonom identifizierte einige der Ursachen dafür, unter anderem die Sanktionen der US-Regierung.

„Zweifellos ist die Blockade kriminell, ihr Ende liegt jedoch nicht in den Händen der kubanischen Regierung. Deshalb muss dieses Problem trotz der Blockade überwunden werden“, sagte er.

Ein weiterer Grund ist der „Schlag“ gegen die Zuckerindustrie, die jahrhundertelang das Rückgrat der kubanischen Wirtschaft war.

„Kuba produzierte 1970 mehr als acht Millionen Tonnen Zucker, heute ist es weniger als ein Zehntel davon. Dieser Rückgang ist bemerkenswert. Der grundlegende Faktor der internen und externen wirtschaftlichen Verflechtung Kubas hat einen schweren Schlag erlitten, ohne dass es einen Ersatz gibt“, erklärte er.

Eine zusätzliche Schwierigkeit, der sich Kuba gegenübersieht, sei die Auslandsverschuldung.

„Kuba hat Schulden, die es ständig zwingen, Formen der Neuverhandlung zu suchen und sich internationalen, bilateralen und multilateralen Forderungen auszusetzen. Dies schränkt den Zugang zu Krediten stark ein. Es müssen Wege gefunden werden, dieses Problem zu lösen. Ich stimme mit einigen Ökonomen überein, die vorgeschlagen haben, einen Teil der Schulden mit nationalen Vermögenswerten zu begleichen und dabei neue Techniken der Finanzwissenschaft anzuwenden“, sagte er.

Abgesehen davon hat das Land seit langem ein Problem: die fehlende Konvertibilität des kubanischen Peso.

„Es wurde erwartet, dass mit der Währungsneuordnung eine einheitliche Währung und ein einheitlicher Wechselkurs eingeführt werden, aber heute haben wir mehr Währungen und Wechselkurse als je zuvor“, so Carranza, der die 2021 gestartete Währungsreform als den heikelsten Fehler der letzten Jahre bezeichnete.

„Das Währungsregime, das nicht die Voraussetzungen für ein Wachstum des Produkt- und Dienstleistungsangebots schuf, vervielfachte plötzlich einen wichtigen Teil der Kosten staatlicher Unternehmen um das 24-fache, was zu einem sofortigen Preisanstieg führte. Man hat versucht, dieses Problem durch eine Erhöhung der Löhne und Renten zu lösen, aber da es keine Steigerung der Produktion gab, führte dies zu einem Prozess der verstärkten Inflation, der bis heute anhält“, erklärte er.

Den Turbulenzen entkommen

Carranza weist darauf hin, dass vor der Einleitung umfassender Veränderungen in der kubanischen Wirtschaft einige Fragen geklärt werden müssen, die den Erfolg des Prozesses bestimmen.

„Wenn eine Volkswirtschaft unter makroökonomischen Ungleichgewichten leidet, ist das wie ein Flugzeug, das durch eine Turbulenzzone fliegt. Die erste Aufgabe besteht darin, aus dieser Zone herauszukommen und dann den richtigen Kurs einzuschlagen. Der gesamte Reformprozess hängt von der Wiederherstellung dieser Gleichgewichte ab, die den Wirtschaftsakteuren und den Verbrauchern einen Raum für ein normaleres und stabileres Funktionieren bieten. Das geht nicht mit den großen Spannungen, die sich heute nicht nur in Schwierigkeiten bei der Ernährung, sondern auch im Gesundheitswesen, bei den grundlegenden Dienstleistungen wie Strom, Wasser, Infrastruktur, Banken usw. ausdrücken“, erklärte er.

Ein Ausdruck dieser makroökonomischen Ungleichgewichte ist die Inflation, die, wie der Experte warnt, das Potential hat, soziale Spannungen zu erzeugen.

„Die Inflation ist ein Prozess, der den Menschen die Ressourcen raubt, vor allem den Schwächsten, die heute die große Mehrheit in Kuba ausmachen“, betonte Carranza. Er kritisiert die im Juli vom Staat beschlossene Maßnahme, die Preise zu deckeln, da die Produkte faktisch auf dem Schwarzmarkt landen.

Auch zeigte er sich besorgt über das Fehlen eines öffentlichen Plans, wie der Staat das makroökonomische Gleichgewicht wiederherstellen will.

„Ich habe von einem Plan bis 2030 gehört. Heute sind wir im Jahr 2024. Sechs Jahre sind eine lange Zeit. Politisch kommt das nicht hin, wir brauchen kurzfristigere Lösungen“, sagte er.

Für Carranza ist das kritischste und beunruhigendste wirtschaftliche, soziale und politische Problem, mit dem Kuba derzeit konfrontiert ist, dass die Löhne und Renten nicht ausreichen, um die grundlegendsten Bedürfnisse zu decken. „Das ist ein Problem, das die Menschenwürde berührt“, betonte er.

Der Durchschnittslohn liege bei rund 4000 kubanischen Pesos, ein Karton Eier koste 3000: „Das ist ein ernstes Problem“.

„In einer Arbeitergesellschaft wie der unsrigen muss die Arbeit der Menschen das wertvollste und anerkannteste sein. Der Lohn ist die materielle Entlohnung, die Anerkennung der Arbeit. Wenn der Lohn nicht funktioniert, wird die Botschaft vermittelt, dass die eigene Arbeit, die eigene Arbeitsstellung nicht zählt“, sagte er.

Julio Carranza betonte, dass eine „neue, offene, antidogmatische Mentalität ohne paradigmatische Erstarrung“ notwendig sei, um die wirtschaftlichen Probleme der Insel anzugehen und zu lösen. „Die Zeit vergeht, die Widersprüche häufen sich und können zu sehr schwierigen sozialen und politischen Zuständen führen“.

Carranza im Gespräch (Quelle: OnCuba)

Es wurde Zeit verschwendet

„Hätte man in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre mit einer profunderen Transformation der Wirtschaft begonnen, wären wir schon viel weiter“, erklärte Carranza.

An Vorschlägen mangelte es damals nicht. Zusammen mit ihm schrieben zwei weitere Ökonomen (Luis Gutiérrez und Pedro Monreal) das Buch „Kuba. Die Umstrukturierung der Wirtschaft: Ein Debattenvorschlag“, das 1995 vom staatlichen Verlag Ciencias Sociales und später auch von anderen ausländischen Verlagen veröffentlicht wurde.

„Es hatte eine beträchtliche Verbreitung, aber keinen bedeutenden Einfluss auf die Politik, die in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre umgesetzt wurde“, bedauerte Carranza, der zusammen mit seinen Kollegen Ideen vorschlug, die die Regierung fast 30 Jahre später schließlich genehmigte, wie beispielsweise die Öffnung des Privatsektors.

Der Text konzentriert sich auf die Frage, was eine umfassende Reform bedeutet und wie sie nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers und dem Wegfall der Vorteile, die Kubas Wirtschaft bis dahin getragen haben, umgesetzt und ein „erschöpftes“ Wirtschaftsmodell verändert werden kann.

Ebenso reflektierten die Autoren damals über die Rolle des Marktes in der sozialistischen Gesellschaft.

„Es gibt eine starke Idee in diesem Vorschlag, der zu Folge der Sozialismus auch eine merkantile Gesellschaft ist. Der Unterschied zum Kapitalismus besteht darin, dass im Kapitalismus alle Beziehungen im Wesentlichen durch den Markt erklärt und beherrscht werden, insbesondere in seiner neoliberalen Version. Im Sozialismus sollte dieser Markt eine ökonomische Regulierung haben und es sollte einige Aktivitäten geben, die außerhalb des Marktes bleiben, weil sie für den Menschen von elementarer Bedeutung sind, beispielsweise Gesundheit und Bildung“, kommentierte der Autor.

Als Antwort auf die Meinungen, die sich gegen die Ausweitung des Marktes in Kuba aussprechen, rief der Ökonom dazu auf, das gegenwärtige System so zu verstehen, wie es wirklich ist. „Es handelt sich um eine objektive soziale Produktionsbeziehung, die jenseits des Willens der Menschen existiert und die einzige Form ist, in der eine Wirtschaft mit knappen Ressourcen funktionieren kann. Das gilt für alle Volkswirtschaften“, argumentierte er.

Darüber hinaus betonte er die Notwendigkeit, den Markt zu regulieren, jedoch nicht durch „willkürliche oder administrative“ Maßnahmen, sondern durch „ökonomische Methoden“ wie „Steuerpolitik, Geld- und Wechselkurspolitik, Investitionspolitik, Sozialpolitik, Wahrung der Rechte der Arbeitnehmer“.

Der private und genossenschaftliche Sektor in Kuba brauche „funktionierende Märkte, Infrastruktur, Kredite, eine funktionierende Bank, Großhandelsmärkte, die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und natürlich strenge Kontrollen, wie eine angemessene Steuerpolitik, die Steuerhinterziehung reduziert und die Steuern objektiv an die Aktivität des Unternehmens bindet“.

Carranza betonte, dass der konzeptionelle Vorschlag seines Buches, an dem er als Co-Autor mitgewirkt hat, weiterhin gültig sei, auch wenn einige Elemente angepasst werden müssten. Er erklärte, dass es jetzt sogar ein viel günstigeres Szenario für diese Diskussion gebe, nachdem die Konzeptualisierung des Wirtschafts- und Sozialmodells und die neue Verfassung in den Jahren 2016 bzw. 2019 angenommen worden seien.

Er betonte jedoch, dass die Insel noch weit von dem wirtschaftlichen Transformationspotential entfernt sei, das diese Dokumente aus politischer Sicht ermöglicht hätten.

Gefragt nach den Ursachen, benannte Carranza eine ganze Reihe von Gründen:

„Die ersten Faktoren sind ideologischer Natur, alte Denkweisen, die den Markt mit dem Kapitalismus gleichsetzen. Deshalb befürchten einige, dass eine stärkere Präsenz des Marktes zu einem Rückschritt der Revolution führen könnte. Zweitens, weil er, wie alles Neue, Ängste hervorruft. Es ist immer eine Herausforderung, die Komfortzone zu verlassen. Diese Wirtschaft wurde jahrzehntelang auf eine bestimmte Art und Weise verwaltet, und es gibt eine gewisse Trägheit, eine Tendenz, in dieser Verwaltungsform zu verharren. Und drittens, weil bestimmte Interessen entstanden sind, viele davon illegitime“, räumte er ein.

Diese Widerstände seien stark. „Manchmal sagt die oberste Regierungsebene Dinge, die dann nicht umgesetzt werden“, fügte er hinzu.

Er merkte an, dass oft ein veralteter Diskurs aufrechterhalten werde, der Wirtschaftswachstum fordere, aber die umgesetzten Politiken nicht mit den dafür notwendigen praktischen Erfordernissen übereinstimmten.

„Natürlich wird es immer Widersprüche geben. Die müssen politisch behandelt und gelöst werden, mit einer funktionierenden Wirtschaft, mit ökonomischen Grundlagen. Das ist die große Aufgabe. Aber wir haben nicht endlos Zeit. Man kann nicht ewig mit den aktuellen Problemen und Schwierigkeiten leben, die die Menschen in ihrem Alltag haben“, schloss er.

Ein Gastbeitrag von Osvaldo Pupo im Gespräch mit dem kubanischen Ökonomen Dr. Julio Carranza. Übersetzung: Cuba heute. Erstveröffentlichung im spanischen Original auf OnCuba.

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