Kubas ehemaliger Wirtschaftsminister José Luis Rodríguez ist eine Autorität auf der Insel. Der marxistische Ökonom plante die sozialistische Volkswirtschaft zwischen 1995 und 2009 und gilt auch in theoretischen Fragen als wichtige Instanz. In der Wirtschaftssendung „Cuadrando la caja“ nahm er zuletzt mit anderen Vertretern seines Fachs ausführlich zur Rolle von Plan und Markt im laufenden Reformprozess in Kuba Stellung. Wo steht die offizielle Debatte heute, und welche Rolle soll der Privatsektor im künftigen Wirtschaftsmodell einnehmen? „Cuba heute“ wirft einen Blick auf die Diskussion, die über zwei Sendungen hinweg geführt wurde.
Von Guevara bis zu den Lineamientos
Die Diskussion, wie sich die Planwirtschaft in Kuba ausgestalten soll, reicht bereits bis in die 1960er Jahre zurück. Im Rahmen der „Großen Debatte“ (1963-64) lieferten sich Che Guevara, der Franzose Charles Bettelheim und der deutsche Ernst Mandel eine Auseinandersetzung darüber, welche Rolle Märkte und das Wertgesetz beim Aufbau des Sozialismus spielen sollen oder müssen. Che Guevara setzte sich damals mit seinem hyperzentralistischen Ansatz des „Budgetverwaltungssystems“ durch, nach dem die gesamte Volkswirtschaft als eine einzige große Fabrik geplant wird. Nach der gescheiterten 10-Millionen-Zuckerrohrkampagne folgte 1971 eine (erste) Neubewertung. Ab 1976 hielt das an den RGW-Mainstream angelehnte „Neue Planungs- und Verwaltungssystem“ (SDPE) Einzug, ab 1986 folgte im Rahmen der „Berichtigung von Irrtümern“ (Rectificación) eine Rückbesinnung auf das guevaristische Ideal mit Schwerpunkt auf moralischen Anreizen. Bis zum Start des aktuellen Reformprozesses im Jahr 2011 folgten mehrere Wellen von De- und Re-zentralisierung, bei denen das Gewicht zwischen monetären und moralischen Anreizen, finanziellen und materiellen Planungskriterien immer wieder neu austariert wurde.
Die aktuellen Reformdokumente (die Leitlinien, „Lineamientos“, und die Konzipierung des Wirtschafts- und Sozialmodells, „Conceptualización“), die zuletzt auf dem VIII. Parteitag der Kommunistischen Partei (PCC) im April 2021 aktualisiert wurden, definieren Kuba als ein „sozialistisches Wirtschaftssystem […] mit planmäßiger Leitung der Wirtschaft, das den Markt anerkennt und diesen im Interesse der Gesellschaft kontrolliert und reguliert“. Das „Eigentum des gesamten Volkes an den Produktionsmitteln“ steht als die hauptsächliche Eigentumsform im Vordergrund, die von privatem und genossenschaftlichem Eigentum ergänzt wird. Hier setzt Rodríguez an.
„Marx und Engels haben nicht genau beschrieben, wie der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ablaufen wird“, erklärt er zu Beginn der Sendung, die unter dem Titel „Planung und Markt: eine mögliche Harmonie?“ stand. Der Sozialismus habe sich mit der Oktoberrevolution in Russland entgegen aller Erwartungen zuerst in einem rückständigen Land herausgebildet. Die wirtschaftlichen Entscheidungen in einem solchen Land allein auf Basis von Gebrauchswerten zu treffen, habe zwar während der Zeit des Kriegskommunismus funktioniert, konnte aufgrund der Rückschrittlichkeit der Produktivkräfte und der nach wie vor vorhandenen gesellschaftlichen Arbeitsteilung keine Dauerlösung sein, so Rodríguez, der darauf verwies, dass die Warenproduktion deutlich älter als der Kapitalismus sei: „Trotz Vergesellschaftung kann sich die Arbeit aufgrund der relativen Isolation der Produzenten nicht auf direkter, unvermittelter Weise ausdrücken. Die Aufhebung des Marktes als Mittler bedarf eines langen, historischen Prozesses der Produktivkraftentwicklung“.
Übergang zur strategischen Planung
Soweit so bekannt. Rodrígez gab hier den Konsens zur Frage der Warenproduktion wieder, der sich in den Gesellschaftswissenschafen der meisten sozialistischen Länder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Zentrale Planung, „die Lenkung der Wirtschaft auf ein bestimmtes Ziel hin“, zitierte Rodríguez Che Guevara, sei „die Daseinsform der sozialistischen Gesellschaft, mit dem Ziel der vollständigen Emanzipation des Menschen in der kommunistischen Gesellschaft“. „Dies ist eine deutlich umfassendere Definition der Planung, die nicht nur ökonomische, sondern auch soziale und politische Aspekte umfasst“, führte Rodríguez aus.
Joel Ernesto Marill, Leiter der Abteilung für strategische Planung und Entwicklung beim Wirtschaftsministerium (MEP), differenzierte zwischen Planung und zentralisierter Ressourcenallokation nach sowjetischem Vorbild. „Die Planung in Kuba trägt heute einen zunehmend indikativen, strategischen Charakter, der versucht die Zuteilung von Ressourcen auf Marktprozesse zu verlagern und den Fokus der Planung auf Entwicklungsziele und Sozialpolitiken zu legen“, so Marill. In einer diversifizierten Wirtschaft mit verschiedenen Eigentumsformen könne die zentralisierte Zuteilung von Ressourcen nicht mehr das „einzige Instrument“ der Ressourcenallokation sein. Die sozialistische Ökonomie unterscheide sich durch die Zielgerichtetheit der wirtschaftlichen Entwicklung, die sich an sozialen Bedürfnissen ausrichtet, von der kapitalistischen, merkte Rodríguez an. „Wir müssen hierfür auch die Instrumente der Planung perfektionieren und brauchen mehr Informationen“, erklärte der Ökonom Rafael Montero von der Universität Havanna. „Wir benötigen Vorhersagewerkzeuge, mathematische, statistische Modelle bis hin zu künstlicher Intelligenz“.
Montero warnte davor, Plan und Markt als Gegensätze zu verstehen: „Der Markt ist eine Realität in der kubanischen Gesellschaft, und muss als Werkzeug der Planung genutzt werden“. Ein Problem hierfür bestünde in der „niedrigen Qualität der monetär-merkantilen Beziehungen in Kuba: sie sind oft asymetrisch, von Monopolen bestimmt und funktionieren nicht gut“, so Marill. Kuba müsse effiziente Märkte schaffen, erst diese könnten auch Gegenstand wirkungsvoller Regulation sein. In Bezug auf die Regulierung erklärte Rodríguez, dass die in Kuba früher häufig genutzten Preisobergrenzen nicht funktionierten, da sie nur Symptome bekämpfen. „Den Markt zu negieren ist nicht die Lösung. Der Staat muss in die Lage versetzt werden, mit dem Privatsektor zu konkurrieren“, sagte Rodríguez. „Es stimmt, dass uns die zentralisierte Planung und Ressourcenzuteilung in der Krise geholfen hat, aber dieses Modell wird uns kein Wachstum in der Zukunft ermöglichen“, erklärte Marill.
Die Rolle des Privatsektors
Seit Verabschiedung der Gesetze über kleine und mittlere Unternehmen (KMU) im September 2021 haben sich mittlerweile über 8000 neue Akteure gegründet, die rund 200.000 Beschäftigte zählen. KMU (auf Kuba: „Micro, pequeñas y medianas empresas“, MIPYMES genannt) können bis zu 100 Personen beschäftigen und erhalten die Rechtsform einer „Sociedad de responsabilidad limitada“ (SRL), die in etwa einer deutschen GmbH entspricht. Damit sind neben einem deutlich attraktiveren Steuersystem und Haftung über das Firmeneigentum auch neue Möglichkeiten für Kooperationen mit dem Staatssektor und ausländischen Investoren verbunden. Zudem sind seit Inkrafttreten der neuen Gesetze vom September 2021 Gründungen in sämtlichen Branchen mit Ausnahme einer 112 Punkte umfassenden Negativliste möglich. Die Negativliste (PDF) umfasst vor allem traditionell staatliche Tätigkeitsfelder wie Militär, Gesundheitswesen, Wasser- und Energiewirtschaft, aber auch Bergbau, Medien, Zuckerindustrie und Großhandel. Möglich wurde die Öffnung durch die neue Verfassung von 2019, nach der die Konzentration von Reichtum nicht mehr verboten, sondern „reguliert“ wird, und in der verschiedene Formen von Eigentum Anerkennung finden.
Was heißt das für das künftige Wirtschaftsmodell: Welche Rolle werden KMU in Kuba künftig spielen, und welche Rahmenbedingungen müssen für das Zusammenspiel aller Akteure geschaffen werden? Darum ging es in der Folgesendung unter dem Titel „Private KMU in Kuba: eine strategische Allianz“.
„KMU sind eine Chance für unsere Wirtschaft, die von sämtlichen Beschlüssen und Dokumenten, angefangen bei der neuen Verfassung, unterstützt wird“, erklärte Daniel Torralbas, Experte für Wirtschaftsakteure beim MEP. Im Kontext des großen Mangels, den die kubanische Wirtschaft heute erlebt, schaffe der Privatsektor neue Güter und Dienstleistungen und trage zur Entwicklung der Wirtschaft bei. Dabei habe jede Eigentumsform, vom Staatsbetrieb über Genossenschaften bis hin zu privaten KMU ihren Platz, in dem sie ihre Funktion am besten ausüben könne. „Ein Ziel ist, dass die neuen Akteure eine Allianz mit den sozialistischen Staatsunternehmen bilden, da diese nicht sämtliche Aspekte der Wirtschaft abdecken können“, erklärte Daisel García, Vertreterin der Provinzregierung von Sancti Spíritus. Torralbas bekräftigte die vorherrschende Rolle des Staatssektors und die bestehenden Einschränkungen bei der Gründung von Privatbetrieben in bestimmten Sektoren. KMU seien keine Gefahr, auch wenn dies von einigen noch immer so gesehen werde, so Torralbas. Wie García erklärte, rührten viele Vorurteile gegen den Privatsektor von den hohen Preisen, was jedoch auch mit den Steuern und den übrigen Rahmenbedingungen zu tun habe, in denen KMU operieren. „Auch die Staatsunternehmen müssen hierfür ihre Preise senken“, so García.
„Manchmal wird alles, was an teuren Produkten in der Straße verkauft wird, den KMU zugeschrieben, dabei handelt es sich in vielen Fällen gar nicht um registrierte Privatbetriebe“, erklärte Torralbas. Viele der strategischen Allianzen mit Privatbetrieben, die von der Herstellung von Lebensmitteln bis zu pharmazeutischen Produkten reichten, seien wenig sichtbar. „Es gibt heute Kooperationen, in denen KMU die Inputgüter stellen, da es dem Staatsbetrieb an Devisen fehlt, während letzterer die Infrastruktur und Arbeitskräfte stellt“, führte ein Beispiel für eine öffentlich-private Partnerschaft (PPP) aus Torralbas aus. Ein Problem sei der weiterhin hohe Import von Fertigwaren, weshalb neue Anreize für Produzenten geschaffen werden müssten. „Wir müssen von einer Handelswirtschaft hin zu einer Wirtschaft, die produziert, gelangen. Ein wichtiges Problem hierbei besteht in der Finanzierung, dafür brauchen wir neue Kredit- und Fiskalpolitiken“, fügte Fernando Suárez von der privaten Firma EMSI S.R.L hinzu, die sich der Herstellung von medizinischen Produkten widmet. „Was für brauchen sind mehr Unternehmen, von allen Eigentumsformen“, sagte Suárez.
Insgesamt spiegelt die Debatte weiterhin einen Konsens, den der ungarische Reformökonom Janos Kornai einst als „Reformsozialismus“ bezeichnet hat: Die Notwendigkeit der Warenproduktion und die damit einhergehende Nutzung des Marktes wird anerkannt, gleichzeitig wird dem Privatsektor eine komplementäre, aber wachsende Rolle eingeräumt. Die laufende Entwicklung hin zu einer Planung, die nicht mehr jede Schraube zentral zuteilt sondern sich auf fiskale und monetäre Rahmenbedingungen und strategische Entwicklungen konzentriert, ist bereits ein Wink in Richtung sozialistischer Marktwirtschaft wie sie aus China oder Vietnam bekannt ist. Entscheidende Fragen blieben von den Panelisten jedoch unbeantwortet: Wie genau wird der Übergang zu indikativer Planung ausgestaltet und was bedeutet das für die Preisbildung? Welche Bereiche des Staatssektors sollen zentralistisch-administrativ verwaltet werden und was passiert mit unrentablen Betrieben? Welche Eigentumsformen werden marktorientierte Staatsbetriebe künftig annehmen? Hier soll das zum Ende des Jahres erwartete Unternehmensgesetz ansetzen, bei dem erstmals zwischen strategischen und nicht-strategischen Betrieben unterschieden wird und das einige der genannten Fragen beantworten dürfte. Der erste Entwurf soll in den kommenden Monaten vorgestellt werden.