29. März 2024

Sondersitzung des Parlaments: Kubas Landwirtschaft im freien Fall

Kubas Nationalversammlung tritt zur Stunde zur ersten Sondersitzung der neuen Legislatur zusammen. Als erstes Thema stand heute Vormittag die Lage der Wirtschaft auf der Agenda. Wirtschaftsminister Alejandro Gil lieferte vor den Abgeordneten einen düsteren, aber realistischen Blick auf die Lage der kubanischen Ökonomie nach dem Ende des ersten Quartals 2023, das laut Regierungsplänen nach Jahren der Krise eigentlich zum ersten besseren Jahr werden sollte. „Cuba heute“ hat die wichtigsten Punkte im Überblick:

  • Außenhandel: Die gute Nachricht zuerst: Bei den Exporteinnahmen liegt Kuba mit 728 Millionen US-Dollar bis Ende April drei Prozent über dem Plan. Auch der Tourismus läuft, wenn auch eher zäh, doch kontinuierlich wieder an. Bis Anfang Mai statteten eine Millionen Personen der Insel einen Besuch ab. Ein Plus gegenüber dem selben Zeitraum des Vorjahres, aber noch immer lediglich 51% im Vergleich zum selben Zeitraum des Jahres 2019, deutlich weniger als in anderen Zielen der Region. Die wichtigsten Herkunftsländer sind Kanada und Russland. Mit letzterem wurden vor wenigen Tagen eine Reihe neuer Wirtschaftsabkommen geknüpft, die auch den Tourismus betreffen.
  • Inflation: Zwischen Januar und April lag die Preissteigerung (ohne den informellen Sektor) bei 11,39 Prozent. Seit dem letzten April stieg die Teuerungsrate um 45,4 Prozent. Ein Schwerpunkt des diesjährigen Haushalts besteht in der Reaktivierung der Industrie, die seit Covid zum Stillstand gelangt ist, „während soziale Programme die höchste Priorität genießen“. Doch die Mittel seien stark begrenzt. Gil warnte vor einer Ausweitung von Subventionen, die „ein größeres Haushaltsdefizit und in der Folge mehr Inflation“ bedeuteten. Zudem gebe es bereits einen ungedeckten Bedarf an Geldscheinen, dem mit der Ausweitung digitaler Zahlungskanäle begegnet werden soll. Die Transaktionen des im August 2022 eingeführten Devisenmarkts mit einem festen Kurs von 110:1 zum US-Dollar bewegen sich weiter auf niedrigem Niveau, konnten im Vergleich zu früher jedoch zulegen. Der Verkauf von Devisen (auf 100 Dollar pro Person und Tag gedeckelt und mit Wartelisten) sei weiterhin unzureichend. Wohl auch, weil Teile der abgeschöpften Fremdwährungen direkt in die Industrie investiert werden. Auf dem informellen Markt liegt der US-Dollar derzeit in der Nähe seines Allzeithochs bei 195 Pesos, der Euro bei 200 Pesos.
Tritt auf der Stelle: Die Landwirtschaftspolitik in Kuba (Quelle: pxhere)
  • Landwirtschaft: „Alle wichtigen Produktionszweige sind systematisch rückläufig. 2023 ist die Produktion sogar niedriger als im Vorjahr“, sagte Gil. Die größten Einbrüche gab es in den Bereichen Wurzel- und Knollengemüse, Eier, Milch, Reis und Bohnen. Die Produktion von Schweinefleisch ist praktisch kollabiert. „Im Jahr 2017 wurden fast 200.000 Tonnen Schweinefleisch an die Industrie geliefert, 2022 sank diese Zahl auf 8.100 Tonnen“, führte Gil aus. Ursache seien ausgebliebene Tierfutterimporte aufgrund der gestiegenen Weltmarktpreise für Soja und Maismehl. Der Rotstift fiel bei Dünge- und Futtermitteln jedoch weitaus drastischer aus als in anderen Bereichen. Kuba importiert jedes Jahr Lebensmittel für rund zwei Milliarden US-Dollar. Für die Aufrechterhaltung der Grundversorgung über das staatliche Bezugsheft Libreta allein sind rund 1,5 bis 1,6 Milliarden US-Dollar erforderlich. Mittlerweile erfolge in diesem Bereich „praktisch alles über Importe“, so Gil. Er mahnte zur Steigerung der Lebensmittelproduktion auf lokaler Ebene. Ein an der letzten Agrarreform 2020 beteiligter Wissenschaftler, der anonym bleiben möchte, zeigte sich gegenüber „Cuba heute“ mit Blick auf die Umsetzung pessimistisch: das entsprechende Gremium sei bereits seit mehreren Monaten nicht mehr zusammen getreten und größere Änderungen der Landwirtschaftspolitik seien vorerst vom Tisch. „Die Wurzel des Problems liegt in den ausgebliebenen Strukturveränderungen. Wir bräuchten ein komplett neues Landwirtschaftssystem, aber das ist politisch momentan nicht gewünscht“, so der Agrarexperte. Mehrere Abgeordnete ergriffen zu dem Thema das Wort und kritisierten unter anderem den Mangel an Düngemittel und Arbeitsgeräten sowie fehlende Vertragsstrukuren. Gut 18 Prozent der Erwerbstätigen auf Kuba arbeiten in der Landwirtschaft, ihr Anteil am Brottoinlandsprodukt liegt bei unter drei Prozent.
  • Energie: In Bezug auf die anhaltende Treibstoffkrise, in deren Folge die Abgabe von Benzin und Diesel an den Tankstellen seit Mitte April rationiert wird, erklärte Gil, dass insbesondere der Dieselverbrauch in den vergangenen Monaten außer Kontrolle geraten sei: „Wir hätten 87.000 Tonnen verbrauchen sollen und haben 162.000 Tonnen erreicht“. Da Diesel auch für die Stromerzeugung genutzt wird, mussten die Zuteilungen für den Verkehrssektor entsprechend eingeschränkt werden. Ursachen der Planabweichungen nannte er nicht. Aktuell werden 40 Prozent des Stroms in Kuba über die großen Schwerölkraftwerke sowjetischer Bauart generiert. 25 Prozent erfolgt durch sieben schwimmende Kraftwerksschiffe des türkischen Anbieters Karadeniz, die seit 2019 unter Vertrag genommen wurden und die über mehrere Häfen ins Stromnetz einspeisen. Der Rest wird überwiegend mit kleineren Dieselgeneratoreinheiten bewerkstelligt. Zur drängenden Frage, wann sich die Situation im ÖPNV und an den Tankstellen wieder entspannt, gab der Minister keine Auskunft. Demnächst soll das Großkraftwerk „Antonio Guiteras“ in Matanzas nach Ende einer Wartung wieder ans Netz gehen und seine vollen 240 Megwatt liefern, was Diesel einspart und zu einer deutlichen Besserung der Treibstofflage beitragen könnte. Dann dürfte viel davon abhängen, ob die „Guiteras“ langfristig stabil bleibt.
  • Staatsunternehmen: Durch die Aufhebung von Preisobergrenzen und mehr Autonomie stieg die Anzahl der Staatsunternehmen in den schwarzen Zahlen auf 84 Prozent an. 285 Betriebe fahren weiterhin Verluste ein, 126 weniger als im April vergangenen Jahres. Ein Teil dieser Betriebe „soll“ weiterhin Verluste machen, da diese strategische Güter herstellen. Nicht-strategische Beitriebe mit „mangelnder Innovation, fehlendem strategischen Denken und Flexibilität des Managements“ werden umstruktiert. In Vorbereitung auf das kommende Unternehmensgesetz (Ley de Empresas) wird der Staatssektor derzeit katalogisiert und in verschiedene Bereiche aufgeteilt, die künftig unter eigens zugeschnittene Verwaltungsformen (z.B. ausgegründete Filialunternehmen, von denen es bislang erst 159 gibt) mit verschiedenen Autonomiegraden gestellt werden sollen. „Der nationale Stromversorger ist beispielsweise nicht das gleiche wie ein lokal produzierender Betrieb, der über mehr Autonomie und dezentralisiertere Preise verfügen kann“, erklärte Gil. Der monatliche Durchschnittslohn im staatlichen Unternehmenssektor liegt derzeit bei 4856 Pesos, was nach dem offiziellen Wechselkurs rund 38 Euro entspricht. 573 Unternehmen, rund ein Drittel, dürfen inzwischen eigene Lohnskalen definieren und arbeiten mit größerer Autonomie.
  • Privatsektor: Eine der dynamischsten Entwicklungen in der kubanischen Wirtschaft vollzieht derzeit der Privatsektor. Seit Inkrafttreten der Gesetze über kleine und mittlere Unternehmen (KMU) im September 2021 wurden bislang 8012 KMU mit 212.400 Beschäftigten gegründet. Allein seit Dezember kamen rund 2000 neue Wirtschaftsakteure hinzu, während sich die Beschäftigtenzahl verdoppelt hat. 105 KMU sind staatlich, bei 65 handelt es sich um Genossenschaften. Auch der Zugang zum Außenhandel nimmt an Fahrt auf: Allein dieses Jahr wurden durch KMU und andere Privatakteure Waren im Wert von 270 Mio. US-Dollar eingeführt, die Exporte lagen bei 4,8 Mio. US-Dollar. „In den letzten Jahren haben wir Monat für Monat einen Anstieg der Einfuhren von nichtstaatlichen Akteuren erlebt, allein in den letzten beiden Monaten wurde die Zahl von 80 Millionen überschritten. Bei diesem Tempo werden wir im Laufe des Jahres private Importe von mehr als einer Milliarde US-Dollar sehen“, sagte Gil. Ein Problem sei jedoch, dass die meisten Einfuhren sich auf Fertiggüter beschränkten. In den letzten Monaten sind in Havanna und andernorts erste private Supermärkte entstanden, die Waren verkaufen, welche sonst nur in Devisenläden und auf dem Schwarzmarkt erhältlich sind zu ähnlich hohen Preisen verkaufen. Gil führte Gewinnmargen von 500 Prozent ans Beispiel an und forderte diese „Distortionen zu korrigieren“.
  • Investitionen: „Trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage wird das Land seine Entwicklung nicht aufgeben“, erklärte Gil. Investitionen fließen derzeit in Pasta-, Bier-, Schokoladen- und Waschmittelfabriken sowie die jüngst fertiggestellte Vertiefung der Bucht von Mariel. Laut der Statistikbehörde ONE flossen im ersten Quartal des Jahres 17,6 Prozent der Investitionen in die herstellende Industrie, in etwa der selbe Wert wie im Vorjahr. Der Anteil, der Transport und Logistik zu Gute kam, stieg von 15,9 auf 20,8 Prozent an, während die Mittel für Hotel- und Immobilien von 32,3 auf 23,3 Prozent zurückgingen. Die Landwirtschaft bleibt mit einem Anteil 2,9 Prozent eines der Schlusslichter. Insgesamt stiegen die Investitionen (nicht inflationsbereinigt) im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 41 Prozent an, gemessen an der Inflationsrate dürfte es jedoch kaum Zuwächse gegeben haben.
  • Wohnungsbau und Transport: Schlechte Neuigkeiten auch in anderen wichtigen Bereichen. Gil erklärte, dass es „keinen Fortschritt beim Wohnungsbau für die Bevölkerung“ gebe. Der Transportsektor soll sich auf Basis eines geschlossenen Finanzierungssystems langsam wieder erholen, spürbare Auswirkungen würden jedoch auf absehbare Zeit nicht einstellen, wie der Minister einräumte. „Wir sind auf der Suche nach neuen Finanzierungsquellen“, sagte Gil.
  • Stabilisierung der Wirtschaft: Gil gab die Kernelemente eines neuen „makroökonomischen Koordinationsmechanismus“ bekannt, mit dem die größten Distortionen der kubanische Wirtschaft mittelfristig beseitigt werden sollen: „Graduelle Reduzierung des Haushaltsdefizits, Anpassung der Devisenbilanzen, Steigerung der nationalen Produktion, Ordnung der Geld- und Haushaltssphäre, Stabilisierung der Strom- und Treibstoffversorgung und Abbremsen der Inflation“.
  • Auswirkungen der US-Blockade: Angesichts der anhaltenden US-Blockade mahnte Gil zu „kreativem Widerstand, der Suche nach alternativen und innovativen Lösungen“. Außenminister Bruno Rodríguez verwies in einem Referat auf die Auswirkungen geltender Beschränkungen wie den Toricelli Act und das Helms-Burton-Gesetz, in dessen Rahmen auch ausländische Investoren von Sanktionen betroffen sein können. Nach Amtsantritt von Donald Trump seien 240 neue Maßnahmen hinzugekommen, darunter Kubas erneute Aufnahme in die „Liste der Terrorunterstützer“ im Januar 2021, was die Insel auf den Finanzmärkten zum Pariastaat machte. Laut jüngsten Berechnungen des kubanischen Außenministeriums belaufen sich die akkumulierten Schäden in Folge der US-Sanktionen mittlerweile auf 154 Milliarden US-Dollar.
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