22. Juli 2024

Havanna tagt im Krisenmodus

Ein dreitägiger Sitzungsmarathon der kubanischen Nationalversammlung ist am Freitag in Havanna zu Ende gegangen. Im Mittelpunkt der langen Sommertagung stand die anhaltende Wirtschaftskrise auf der sozialistischen Insel. Dabei wurden mehr als 90 Themen diskutiert und sechs neue Gesetze verabschiedet.

Szenario einer Kriegswirtschaft

Bereits am Montag fanden sich die 469 Delegierten des Einparteienparlaments Havanna ein, um in Arbeitsgruppen über die anstehenden Themen zu beraten. Bei den Sitzungen waren 407 Delegierte präsent. Damit war die Teilnahme an der halbjährlichen Parlamentssitzung, der in Kuba traditionell große Bedeutung beigemessen wird, deutlich geringer als in den Vorjahren.

Zu Beginn der Sitzung am Mittwoch berichtete Wirtschaftsminister Joaquín Alonso Vázquez über die Lage der Wirtschaft. Kubas Bruttoinlandsprodukt schrumpfte im vergangenen Jahr um 1,9 Prozent. Der erneute Rückgang nach einer kaum spürbaren Erholung 2022 sei Teil eines „komplexen Szenarios“, das von einem hohen Haushaltsdefizit geprägt sei.

„Wir haben nicht ausreichende Deviseneinnahmen, fast keinen Zugang zu externen Krediten und eine schwache Erholung der heimischen Produktion. Gleichzeitig gibt es Einschränkungen bei Brennstoffen und Energie, eine hohe und anhaltende Inflation und eine hohe Auslandsverschuldung“, fasste er die aktuelle Lage zusammen. In dieser Situation sei die Zentralbank gezwungen, die Geldmenge „über das empfohlene Maß hinaus“ zu erhöhen, so Vázquez. Kubas Premierminister Marrero sprach erneut vom Szenario einer „Kriegswirtschaft“ („economía de guerra“).

Die Deviseneinnahmen waren in der ersten Jahreshälfte zwar höher als 2023, blieben aber um 222 Mio. US-Dollar hinter dem Plan zurück. Ausfälle gab es vor allem bei Nickel und Zucker sowie einer Reihe anderer Exportprodukte. Die Zahl der Touristen erreichte im vergangenen Jahr mit 1,8 Millionen nur 52 Prozent des Niveaus von 2019 und konnte im ersten Halbjahr mit einem Wachstum von knapp zwei Prozent kaum zulegen.

Die Importe waren vergangenes Jahr 42 Prozent geringer als geplant, während die Inflation zwar nachgelassen hat, sich mit 30 Prozent aber weiterhin auf einem hohen Niveau bewegt.

Große Probleme gibt es weiterhin in der Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie. Die Produkte des staatliche Bezugshefts „Libreta“ müssen derzeit zu fast 100 Prozent importiert werden. Aufgrund fehlender Finanzierung und Logistikproblemen kommt es dabei immer wieder zu Verzögerungen. Die heimische Lebensmittelproduktion erlebt indes nach den starken Rückgängen 2020-23 keine Erholung. So ging die Produktion von Schweinefleisch im ersten Halbjahr des Jahres um 1800 Tonnen im Vergleich zu 2023 zurück, von den geplanten 11.300 Tonnen wurden nur 3800 Tonnen produziert. Auch bei Produkten wie Eiern, Bohnen, Milch, Rindfleisch, Kaffee und Kakao werden die Pläne dieses Jahr wohl deutlich verfehlt. Leichte Zuwächse gab es bei der Produktion von alkoholischen Getränken und Limonaden. Die verspätete und oftmals nicht kostendeckende Bezahlung der Bauern durch den staatlichen Abnahmemonopolisten Acopio, seit Jahren Thema auf den Parlamentssitzungen, bleibt weiter ein Problem.

Trotz stark eingeschränkter Bautätigkeit und wohl aufgrund des Bevölkerungsrückgangs ist das Wohnungsdefizit von 862.000 auf 850.000 Einheiten leicht zurückgegangen.

Als „Haupthindernis für die Entwicklung“ bezeichnete Vázquez die anhaltende US-Handelsblockade, welche wirtschaftliche Schäden von mehr als sechs Milliarden US-Dollar pro Jahr verursache und insbesondere den Zugang zu Krediten, Direktinvestitionen und Exporteinnahmen erschwere.

Umbau des Staatssektors

Das Groß der verfügbaren Mittel muss derzeit für den Import von Lebensmitteln und Brennstoffen aufgewendet werden, weshalb es in anderen Bereichen zu Einsparungen kommt. Auch wichtige Investitionen werden vielerorts zurückgestellt.

Um die weiterhin hohen Sozialausgaben möglichst effizient einzusetzen und der wachsenden sozialen Ungleichheit entgegenzuwirken, sollen Subventionen in Zukunft zielgerichteter erfolgen. Als Teil des im Dezember 2023 beschlossenen „makroökonomischen Stabilisierungsprogramms“ laufen derzeit Studien zur Neugestaltung der Preise des Bezugshefts „Libreta“, kündigte Premierminister Manuel Marrero an. Ziel der Politik sei es „Menschen, statt Produkte“ zu subventionieren.

Die Verwaltung soll entschlackt, und stattdessen mehr produktive Arbeitsplätze in staatlichen Unternehmen geschaffen werden. Deren umfassende Restrukturierung im Rahmen eines geplanten Unternehmensgesetzes („Ley de Empresas“) stand ebenfalls auf der Tagesordnung des Parlaments. Ein Entwurf der Reform wurde von den Abgeordneten diskutiert, bis zur Verabschiedung dürften jedoch noch einige Monate ins Land gehen.

Privatsektor-Regularien stoßen auf Kritik

Beschlossen wurden eine Reform der Rahmenbedingungen des Privatsektors und ein neuer Mechanismus der Devisenzuteilung. Überraschend für Beobachter kündigte Marrero eine Ausweitung der Dollarisierung an. So sollen künftig in bestimmten Bereichen, wie etwa im Tourismus, Devisen auch in Form von Bargeld akzeptiert werden. Außerden sollen Privatbetriebe künftig Zölle und Hafengebühren in Devisen bezahlen. „Unsere Vision ist keineswegs die Dollarisierung der Wirtschaft, sondern das Gegenteil“, erklärte Marrero, „aber um dieses Ziel zu erreichen müssen wir eine teilweise Dollarisierung vornehmen, die es uns ermöglicht, die Deviseneinnahmen zu erhöhen“.

Die Fremdwährungskonten im Staatssektor werden „bereinigt“. Erste staatliche Exportbetriebe dürfen bereits in einem „geschlossenen Finanzierungssystem“ arbeiten, das ihnen ermöglicht, ihre Deviseneinnahmen autonom zu verwalten.

Auch für die mittlerweile rund 11.000 kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) und 598.270 Selbstständigen des Privatsektors kommen einige Änderungen zu. So soll künftig auf Gemeindeebene über die Zulassung neuer KMU entschieden werden, bisher ist jedes Mal eine Genehmigung durch das Wirtschaftsministeriums in Havanna erforderlich. Den Anfang macht in diesem Monat die Stadt Cienfuegos. Im Laufe des Jahres soll im Rahmen einer Testphase in jeder Provinz mindestens eine Gemeinde eigenständig über die Zulassung neuer Wirtschaftsakteure entscheiden können.

Privatbetriebe müssen in Zukunft die Herkunft ihrer Gelder offenlegen. Wer importieren will, muss zudem nachweisen, dass er keine Steuerschulden hat. Die Bezahlung der Importe darf wiederum ausschließlich über Konten bei kubanischen Banken erfolgen. Der Schritt stieß bei Ökonomen auf Kritik, da derzeit völlig unklar ist, wie die praktische Umsetzung erfolgen soll. Devisen können nicht ohne weiteres von kubanischen Konten an ausländische Partner transferiert werden, zudem verkauft der Staat derzeit keine Fremdwährung an nichtstaatliche Akteure.

Darüber hinaus wurde die Zahl der Staatsunternehmen, über die Privatbetriebe am Außenhandel teilnehmen können, von 73 auf 49 reduziert, da in einigen Betrieben „kaum Aktivität und eine schlechte Arbeitsweise“ festgestellt worden sei.

Keine Hexenjagd“

Díaz-Canel bei seiner Rede auf der Schlusstagung am 19. Juli (Quelle: Cubadebate)

Dauerthema jeder Sitzung ist der Kampf gegen Korruption und Steuerhinterziehung. Dieses Jahr gehen dem Staat schätzungsweise 50 Milliarden Pesos an Steuereinnahmen verloren – rund ein Drittel des aktuellen Haushaltsdefizits, das mit 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts das höchste in der Geschichte der Revolution ist. Künftig soll das kubanische Steuersystem professionalisiert werden. Dazu wurden die Kompetenzen der Steuerbehörde ONAT erweitert, und diese direkt dem Ministerrat unterstellt. Darüber hinaus soll zeitnah eine Reform des 2013 eingeführten Steuergesetzes beschlossen werden.

Nach der Einführung neuer Preisobergrenzen für sechs Basisprodukte Anfang des Monats wurden inzwischen knapp 20.000 Kontrollen durchgeführt, in deren Folge Bußgelder in Höhe von insgesamt 30 Millionen Pesos verhängt wurden.

Angesichts der Kritik an den schärferen Regelungen bezog Präsident Miguel Díaz-Canel vor den Abgeordneten Stellung. Er betonte, dass es seiner Regierung nicht um „eine Hexenjagd gegen private KMU“ gehe, es müsse jedoch „Recht und Ordnung herrschen, wenn alle Wirtschaftsformen erfolgreich und gestärkt werden sollen“.

Neues Migrations- und Staatsbürgergesetze beschlossen

Am Freitag verabschiedeten die Abgeordneten eine Reform des Migrations- und Ausländerrechts sowie ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz. Letzteres ist das erste seiner Art im sozialistischen Kuba. Damit soll die Rechtslage in diesem Bereich an die 2019 verabschiedete Verfassung und gängige internationale Praktiken angepasst werden.

So können sich Kubaner künftig länger als 24 Monate am Stück im Ausland aufhalten, ohne den Verlust ihres Aufenthaltstitels oder Eigentums fürchten zu müssen. Für Auslandskubaner wird zudem eine neue Kategorie als Investoren und Geschäftsleute eingeführt, womit die Möglichkeit von Direktinvestitionen aus der Exilgemeinde geöffnet wird. Ausländer können künftig leichter eine permanente Aufenthaltserlaubnis bekommen, zudem steht ihnen die Möglichkeit offen, kubanische Staatsbürger zu werden. Neu ist auch, dass Doppelstaatler erstmals die kubanische Staatsangehörigkeit aufgeben können, sie werden dann in Kuba als Ausländer behandelt. Wer als humanitärer Flüchtling in Kuba Asyl erhält, darf künftig eine Arbeit aufnehmen.

Wie der Vizepräsident der nationalen Statistkbehörde ONEI, Juan Carlos Alfonso, ausführte, steht Kuba vor enormen demographischen Herausforderungen. Die Bevölkerung des Archipels ist zwischen 2020 und 2023 um 10,1 Prozent geschrumpft, was in absoluten Zahlen einem Rückgang von 1,12 Millionen Menschen entspricht. Als Hauptursache nannte er die Auswanderungswelle, jedoch sorge die niedrige Geburtenrate bei einer immer stärker alternden Gesellschaft für die langfristige Verstetigung dieses Trends.

Die Reform der Migrationsgesetze erfolgt auch in diesem Kontext. Wie Alfonso mitteilte, ist die Bevölkerung der Insel dieses Jahr unter die 10-Millionen-Grenze gefallen. Die Zahl der Ausländer mit temporärer Aufenthaltserlaubnis hat sich von rund 25.000 vor der Pandemie auf 13.981 fast halbiert. Darüber hinaus leben derzeit 8.169 Ausländer mit permanentem Aufenthaltsrecht auf Kuba.

Weitere Themen

Neben diesen Gesetzen verabschiedeten die Abgeordneten auch ein neues „Gesetz über Transparenz und Zugang zu öffentlichen Informationen“ sowie die Neufassung des Systems der Ehrentitel und Orden des Staates. Das neue „Gesetz zur Regelung des Verwaltungsverfahrens“ erklärt im Einklang mit der Verfassung die Menschenwürde zur „Grundlage aller Verwaltungsverfahren“.

An der geheimen Neuwahl des Nationalen Wahlrates nahmen alle 407 anwesenden Abgeordneten teil, alle fünf Kandidaten wurden einstimmig gewählt. Gladys Bejerano wurde nach 14 Jahren an der Spitze des Nationalen Rechnungshofs abgelöst, ihr folgt nun auf Vorschlag von Präsident Díaz-Canel Mirian Marbán González, die seit 2018 stellvertretende Leiterin der Behörde ist. Außerdem wurden vier neue Mitglieder des 23-köpfigen Staatsrats sowie neue Richter des Obersten Gerichtshofs ernannt (gekürzte Fassung auf Amerika21).

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