Laut jüngsten Daten des US-Grenzschutzes hat die Zahl illegaler Grenzübertritte aus Kuba in den letzten drei Monaten deutlich zugenommen. Seit Oktober 2021 haben insgesamt 224.607 Kubaner versucht, illegal in die USA einzureisen. 6182 wurden auf dem Seeweg aufgegriffen und wieder nach Kuba gebracht. Damit hat die aktuelle Auswanderungswelle inzwischen historische Ausmaße erreicht und übertrifft sogar die Bootskrise von Mariel im Jahr 1980, in deren Rahmen rund 125.000 Personen das Land verließen.
Nach den Daten der Grenzbehörden sind letzten Monat 26.742 Übertritte aus Kuba gezählt worden, rund 30 Prozent mehr als im August. Die aktuelle Ausweisewelle hatte vergangenen Herbst mit Öffnung der Grenzen nach dem Ende der Corona-Lockdowns an Fahrt aufgenommen. Im Februar wurde die Zahl von 10.000 illegalen Grenzübertritten erstmals überschritten. Der Höhepunkt wurde im April mit 35.092 erreicht. Nach einem zwischenzeitlichen Rückgang legt die Zahl der Auswanderungen seit Juli wieder zu (siehe Grafik).
Die Statistik erfasst naturgemäß nur illegale Grenzübertritte in die Vereinigten Staaten, Auswanderer in andere Länder sind in den Zahlen nicht abgebildet. Dennoch dürfte sie einen guten Eindruck vom zeitlichen Ablauf vermitteln, da das Gros der kubanischen Emigration traditionell in Richtung USA stattfindet. Trotz Änderungen der Einwanderungspolitik unter Donald Trump genießen kubanische Einwanderer weiterhin gewisse Privilegien, hinzu kommt die geographische Nähe und die kubanische Community in Florida, welche die USA als Ziel attraktiv machen.
Ein breiter gefasster, länderunspezifischer Indikator ist das Wählerregister: Beim Verfassungsreferendum 2019 wurden noch 9,2 Millionen Wahlberechtigte (Personen ab 16 Jahren) gezählt, bei der Abstimmung über das neue Familiengesetz im September waren es 8,8 Millionen. Insgesamt also ein Rückgang von rund 400.000 Personen in drei Jahren, der sich zu großen Teilen mit der Migrationsbewegung erklären lassen dürfte.
Auslöser der jüngsten Auswanderungswelle ist die prekäre wirtschaftliche Lage auf der Insel in Folge der aktuellen Krise. Diese hat ihre Ursache neben hausgemachten Problemen vor allem im Tourismus-Einbruch durch Covid, der weltweiten Wirtschaftskrise und immer wieder verschärften US-Sanktionen. Die ersten beiden Faktoren treffen zurzeit viele Länder der Region. Die Proteste vom vergangenen Sommer und die teils harten Urteile gegen Teilnehmende dürfte den Unmut in Teilen der kubanischen Gesellschaft weiter erhöht haben. Zuletzt haben die massiven Probleme bei der Stromversorgung immer wieder zu lokalen Protesten geführt. Ähnlich wie in den 1990er Jahren fungiert auch heute die steigende Auswanderung als politisches Überdruckventil. Die meisten jedoch verlassen das Land ohne Groll auf ihre Heimat. Insbesondere jungen Kubanern fehlt derzeit schlicht die ökonomische Perspektive. Ihnen ist bewusst, dass das Ende der aktuellen Krise von mehreren, teils externen Faktoren abhängt, und bis zu einer substantiellen Besserung der Versorgungslage noch Jahre vergehen könnten. Der Grad an Opferbereitschaft und Durchhaltewillen unterscheidet die heutige kubanische Gesellschaft von jener der 1990er Jahre, der Fidel als oberster Steuermann durch die Stürme der Geschichte vorstand. Ohne ausreichend Strom, mit ständiger Knappheit an Lebensmitteln, Medikamenten, Wohnraum und zunehmender sozialer Ungleichheit konfrontiert, sehen viele den Neubeginn im Ausland schlichtweg als bessere Lösung für ihre Familienplanung. Für die Wirtschaft stellt der „Brain Drain“ indes eine zusätzliche Belastung dar: Nicht wenige gut ausgebildete Fachkräfte haben Kuba den Rücken gekehrt. Betriebe suchen händeringend nach Arbeitskräften und klagen über hohe Fluktuation ihrer Belegschaften. Zwar haben bis Ende August 152.000 Personen eine Beschäftigung aufgenommen, die meisten davon waren jedoch vorher ohne festes Arbeitsverhältnis. Facharbeiter mit jahrelanger Erfahrung können kurzfristig nicht ersetzt werden.
Nach der letzten großen Auswanderungswelle 1994 sicherten die Vereinigten Staaten Kuba zu, jährlich 20.000 Visa zu vergeben. Damit sollen Anreize für gefährliche Überquerung der Floridastraße mit selbstgebauten Booten reduziert werden. Die Fahrten enden in Folge von Seegang und mangelnder Navigationskenntnisse nicht selten tödlich. Das Abkommen wurde während der Trump-Ära ignoriert und soll nun wieder umgesetzt werden. Zuletzt mussten ausreisewillige Kubaner in Drittländer wie Guyana fliegen, um dort bei der lokalen US-Vertretung vorstellig zu werden. Die kaum weniger gefährlichen Landwege Mittelamerikas, welche häufig Menschenschmuggler involvieren, wurden aufgrund horrender Flugpreise und neuer Visabestimmungen immer schwieriger. Die Zahl der „Balseros“, wie die Bootsflüchtlinge genannt werden, hat in der Folge wieder zugenommen. Wer gehen will, scheint immer einen Weg zu finden. Erst vor wenigen Tagen spielte sich ein gleichfalls abenteuerliches wie seltenes Ereignis ab: Wie die Parteizeitung „Granma“ berichtet hat ein Pilot aus Santa Clara ein kubanisches Agrarflugzeug vom Typ AN-2 gekapert, mit dem er wenig später in Florida landete.
Die US-Botschaft in Havanna hat angekündigt, ab Januar 2023 wieder sämtliche Visa vor Ort bearbeiten zu wollen und die Zahl von 20.000 einzuhalten. Von kubanischer Seite wurde der Schritt begrüßt.
Ob die aktuelle Auswanderungswelle weiter zunimmt oder ihren Zenit bereits überschritten hat, ist schwer einzuschätzen. Ein wichtiger Indikator deutet eher in Richtung eines bevorstehenden Rückgangs: Der informelle Wechselkurs des US-Dollars. Dieser hatte in diesem Jahr unter anderem deswegen ungekannte Höhen erreicht, weil ein guter Teil der Dollarnachfrage auf die Realisierung von Ausreiseplänen entfällt. Von 110 Pesos pro Dollar im Juli stieg der Kurs bis 1. Oktober auf ein Allzeithoch von 200 Pesos, fällt seitdem aber wieder steil ab und erreichte diese Woche einen Wert von 165 Pesos pro Dollar. Möglicherweise ein Hinweis auf ein Abebben der Ausreisepläne zum Jahresende. Wie sich die Situation mittelfristig entwickelt, dürfte vor allem von den Rahmenbedingungen der kubanischen Wirtschaft im kommenden Jahr abhängen. Eine wesentliche Stellschraube sind die seit langem überfälligen Lockerungen der US-Sanktion, insbesondere im Finanzbereich. Seit der erneuten Listung als „Staatssponsor des Terrorismus“ im Januar 2021 lehnen viele Banken Geschäfte mit der Insel ab. Ohne diese wird Kuba kaum seine Ziele bei der Gewinnung neuer Investoren erreichen können, welche essentiell für die Erholung der Wirtschaft sind. Laut letzten Aussagen des US-Außenministeriums werde die mit Amtsantritt Bidens begonnene Prüfung der Listung fortgesetzt, eine Entscheidung wird frühestens nach den Midterm-Wahlen am 8. November erwartet.