19. März 2024

Die Ergebnisse der Parlamentswahl im Detail (Analyse)

Die nationale Wahlkommission (CEN) in Kuba hat gestern die Endergebnisse der Parlamentswahl vom Sonntag bekanntgegeben. Demnach beteiligten sich 75,87 Prozent der 8,12 Millionen Wahlberechtigten an der Abstimmung, marginal weniger als die im vorläufigen Ergebnis gemeldeten 75,92 Prozent. 72,1 Prozent der gültigen Stimmen entfielen auf alle Kandidaten („voto unido“), 27,9 Prozent der Stimmzettel wurden für einen oder mehrere der Kandidaten abgegeben („voto selectivo“). 6,22 Prozent der Stimmzettel sind ohne sichtbare Willensbekundung („blanco“) eingeworfen worden, 3,5 Prozent waren ungültig. Der Anteil der gültigen Stimmen lag bei 90,28 Prozent.

Zur Wahl standen 470 Kandidaten, die sich auf die gleiche Anzahl an Listenplätzen bewarben. Alle Kandidaten erhielten die notwendige Mehrheit von 50 Prozent der gültigen Stimmen. 114 von ihnen wurden auf nationaler Ebene durch die Wahlkommission und gesellschaftliche Organisationen wie Gewerkschaften und Berufsverbände aufgestellt, 135 entstammen der Provinzebene. 221, knapp die Hälfte, wurden im Rahmen von Nachbarschaftsversammlungen auf der Basisebene nominiert. Der Frauenanteil der künftigen Abgeordneten liegt bei 55,3 Prozent, ihr Durchschnittsalter beträgt 46 Jahre.

Die Präsidentin der Wahlkommission, Alina Balseiro, betonte auf der Pressekonferenz am Donnerstag die „Transparenz und Wahrheitstreue“ des Wahlprozesses in Kuba. „Man kann bei uns eine Überprüfung vornehmen, davor haben wir keinerlei Angst“, so Belseiro, die darauf verwies, dass die Stimmauszählung auf der Insel öffentlich erfolgt.

Oppositionsgruppen bezeichneten die Wahl in dem Einparteiensystem als „Farce“, da alle der nominierten Kandidaten die Revolution grundsätzlich unterstützen und die Kommunistische Partei (PCC), laut Verfassung „führende Kraft in Staat und Gesellschaft“, als politischer Hegemon fungiert. Eine Mitgliedschaft in der PCC ist für eine Kandidatur kein Muss, die meisten Abgeordneten der Nationalversammlung gehören dieser jedoch an.

Kubas Regierung wiederum sieht das Wahlsystem als „genuinen Ausdruck sozialistischer Demokratie“. Über die Nominierung auf Nachbarschaftsversammlungen würden auch unbekannte, aber verdienstvolle Personen ins Parlament einziehen können, durch das Wahlkampfverbot soll der Einfluss von Geld und Korruption im Wahlprozess ausgeklammert werden. Während bei den Kommunalwahlen in Kuba ein kompetitiver Auswahlprozess (2 bis 8 Kandidaten pro Listenplatz) mit Stichwahlen stattfindet, handelt es sich bei den Parlamentswahlen laut Einschätzung der spanischen Nachrichtenagentur EFE eher um „eine begrenze, plebeszitäre Übung, bei der das politische System selbst zur Abstimmung steht“.

Wahlbeteiligung: Ein Blick in die Provinzen

Wahlbeteiligung bei den Wahlen zur Nationalversammlung in Kuba 2023 nach Provinzen (Quelle: eigene Darstellung auf Basis von NNW/Commons)

An den eingangs erwähnten Wahlergebnissen gab es im Vergleich zum vorläufigen Ergebnis kaum Änderungen. Jetzt liegen allerdings auch genaue Zahlen aus den einzelnen Provinzen und die Ergebnisse der jeweiligen Kandidaten vor:

Die höchste Wahlbeteiligung wurde mit 86,1 Prozent aus der zentralkubanischen Provinz Ciego de Ávila gemeldet. Am wenigsten erschienen die Einwohner Havannas an den Urnen, wo nur 65,8 Prozent der Wahlberechtigten an der Abstimmung teilnahmen. 10 Prozent mehr als bei den Kommunalwahlen im November, bei denen lediglich 55 Prozent der Wahlberechtigten aus der Hauptstadt an den Urnen erschienen. In Santiago de Cuba, der zweitgrößten Stadt des Landes, lag die Wahlbeteiligung mit 76,8 Prozent leicht über dem nationalen Durchschnitt.

Provinz2018 2023Änderung
Pinar del Río89,74%80,95%-8,79%
Artemisa89,04%81,05%-7,99%
Havanna79,46%65,81%-13,65%
Mayabeque90,67%77,44%-13,23%
Matanzas84,70%83,88%-0,82%
Villa Clara87,40%78,06%-9,34%
Cienfuegos86,08%77,99%-8,09%
Sancti Spíritus89,14%78,58%-10,56%
Ciego de Ávila85,26%86,14%+0,88%
Camagüey85,19%79,45%-5,74%
Las Tunas87,33%77,15%-10,18%
Holguín85,17%72,88%-12,29%
Granma88,28%76,24%-12,04%
Santiago de Cuba87,51%76,81%-10,7%
Guantánamo87,07%73,88%-13,19%
Insel der Jugend89,90%79,96%-9,94%
Gesamt85,65%75,87%-9,78%
Tabelle 1: Wahlbeteiligung bei den Wahlen zur Nationalversammlung in Kuba 2018 und 2023 mit Delta (Quelle: Resultados 2018; 2023)

Die Wahlbeteiligung ist ein wichtiger Indikator im sozialistischen System Kubas, da sich daran das politische Mobilisationspotential der Bevölkerung abschätzen lässt. Eine Wahlpflicht gibt es in Kuba nicht, der Gang zur Urne ist jedoch in der politischen Kultur seit Gründung des Systems der Poder Popular (deutsch: „Volksmacht“) 1976 als Bürgerpflicht verwurzelt.

Wie aus der Tabelle ersichtlich wird, ging die Beteiligung in den vergangenen fünf Jahren um knapp ein Zehntel zurück. Der größte Rückgang ist in der Hauptstadt Havanna (-13,65%) zu verzeichnen, gefolgt von der Nachbarprovinz Mayabeque (-13,23%). Ebenfalls deutliche zweistellige Rückgänge ereigneten sich in den östlichen Provinzen Guantánamo, Holguín, Granma und Santiago de Cuba. Kaum Änderungen gab es in der westlichen Provinz Matanzas (-0,82%), während die Wahlbeteiligung in Ciego de Ávila leicht zugelegt hat (+0,88%).

Insgesamt lässt sich feststellen, dass sich die Unterschiede zwischen den Provinzen signifikant vergrößert haben. Insbesondere Havanna, das mit vielen Problemen und großem Bevölkerungswechsel zu kämpfen hat, sticht dabei hervor. In Zentral- und Ostkuba, Pinar del Río sowie auf der Insel der Jugend erschienen hingegen weiterhin überdurchschnittlich viele Menschen an den Urnen. Eine Erklärung hierfür ist, dass „Peer-pressure“ sowie innere und äußere soziale Kontrolle im ländlichen Raum deutlich stärker ausgeprägt sind als in Havanna, wo beispielsweise die Komitees zur Verteidigung der Revolution (CDRs) vielerorts nicht (mehr) funktionieren. Darüber hinaus sind die Strukturen im ländlichen Raum kleinteiliger: Eine CDR-Vorsitzende auf dem Dorf, die ihr Viertel wie ihre Familie kennt und über entsprechendes Ansehen und Autorität verfügt, wird die Nachbarschaft viel eher zum Gang ins Wahlbüro motivieren können als der Kombinatsleiter in Havanna.

Der Rückgang der Wahlbeteiligung war dieses mal – trotz schwerer Wirtschaftskrise und Protesten im Juli 2021 – mit 9,78% geringer aus als zwischen den Wahlen 2008 und 2013. Damals ging die Beteiligung von 96,9 auf 89,7% (-13,81%) zurück. Unterm Strich konnte die Regierung von Díaz-Canel am Sonntag ihre Mobilisierungsfähigkeit unter Beweis stellen und dürfte gestärkt in eine politische Verschnaufpause gehen: Die aktuelle Legislatur wird bis 2028 dauern. Der nächste Parteitag ist für 2026 geplant und die nächsten Kommunalwahlen finden 2025 statt.

Grafik 1: Wahlbeteiligung und voto unido in Kuba 2002-23 in % der Wahlberechtigten

Im Vorfeld der Wahl hatte die Regierung wie üblich zum „voto unido“, also zur Wahl aller Kandidaten aufgerufen. Fidel Castro erklärte das voto unido 1993 zur „bewussten, revolutionären Wahlstrategie“ und „Zeichen der Geschlossenheit nach außen“. Diesem Aufruf ist nun erstmals seit 1976 weniger als die Hälfte des Wahlvolks nachgekommen.

Wie aus Grafik 1 ersichtlich wird, entspricht der Rückgang des voto unido einem langfristigen Trend, wobei ähnlich wie bei der Wahlbeteiligung zwei größere Einbrüche vor einer Phase der relativen Stabilisierung zu verzeichnen sind. Auch hier war der Einbruch zwischen 2008 und 2013 mit -16,33% etwas größer als zwischen 2018 und 2023 (-15,63%). Über die Ursachen lässt sich freilich spekulieren: Während sich der erste Einbruch 2008 möglicherweise mit dem Rückzug Fidels aus der Politik und der stärkeren „Routinisierung“ der kubanischen Politik erklären lässt (2003 war Kuba noch mitten im Kampagnenmodus), dürfte der jüngste Rückgang – analog zur geschrumpften Wahlbeteiligug – vor allem in Zusammenhang mit der gestiegenen Unzufriedenheit in Folge der aktuellen Wirtschaftskrise stehen. Als durchgehender Trend lässt sich ausmachen, dass die Grundierung der kubanischen Gesellschaft und ihr Verhältnis zu den politischen Institutionen zunehmend heterogener und vielschichtiger wird.

Ergebnisse der Kandidaten

Ebenfalls interessant: der Blick auf die Ergebnisse der einzelnen Kandidaten und bekannter Spitzenpolitiker. Diese geben zwar keinen Aufschluss über nationale Zustimmungswerte, da es sich um die Ergebnisse eines einzelnen Wahlkreises (Direktmandat) handelt, dennoch lassen sich auch hier gewisse Trends ausmachen:

Die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte die 36-jährige Chemielehrerin Yunet Diéguez mit 95,54% im Wahlkreis Jésus Menéndez (Las Tunas). Am schlechtesten schnitt der Erste Parteisekretär der Provinz Camagüey und Mitglied des Zentralkomitees der PCC, Federico Hernández, mit einem Ergebnis von 61,52% ab. Zum Vergleich: Bei den Wahlen 2018 lag die Spannweite der Kandidatenergebnisse zwischen 65,75% und 97,35%, also mit 31,6% etwas geringer als jetzt 34,02%. Ursache dürfte der Trend hin zur selektiven Stimmabgabe sein, die im Vergleich zu 2018 um 8,34% zugenommen hat.

Im Folgenden die Wahlergebnisse von sieben ausgewählten kubanischen Spitzenpolitikern, sortiert in absteigender Reihenfolge:

KandidatWahlkreis (Provinz)20182023Änderung
Raúl CastroSegundo Frente (Santiago de Cuba)98,77%94,97%-3,8%
Manuel MarreroGibara (Holguín)94,30%94,91%+0,61%
Alejandro GilAlquízar (Artemisa)89,54%
Miguel Díaz-CanelSanta Clara (Villa Clara)92,85%88,78%-4,07%
Ramiro ValdésArtemisa (Artemisa)90,71%84,15%-6,56%
Bruno RodríguezDiez de Octubre (Havanna)81,93%81,57%-0,36%
Mariela CastroPlaza (Havanna)83,93%79,29%-4,64%
Tabell 2: Wahlergebnisse sieben ausgewählter kubanischer Spitzenpolitiker 2018 und 2023 mit Delta (Quelle: Resultados 2018; 2023)

Das beste Resultat konnte der ehemalige Staatschef Raúl Castro mit 94,97 Prozent in seinem Wahlkreis Segundo Frente in der Provinz Santiago de Cuba erreichen. Das kleine Bergdorf Segundo Frente war 1958 der Gründungsort des von Raúl eröffneten zweiten Kampfgebiets der kubanischen Revolution und gilt als revolutionäre Hochburg. Doch auch Castro musste gegenüber 2018 um 3,8% federn lassen. Den größten Verlust hat der 90-jährige Revolutionsveteran und enge Vertraute Castros Ramiro Valdés mit 6,56% zu verzeichnen, gefolgt von der Leiterin des Sexualaufklärungsinstituts Cenesex, Mariela Castro, die 79,29% der Stimmen in ihrem Wahlkreis erhielt.

Präsident Miguel Díaz-Canel zog über den Wahlkreis seiner Heimatstadt Santa Clara mit 88,78% der Stimmen in die Nationalversammlung ein, rund 4 Prozent weniger als 2018. Kaum Verändert hat sich das Ergebnis von Außenminister Bruno Rodríguez, während Premierminister Manuel Marrero gegenüber 2018 sogar leicht zulegen konnte. Wirtschaftsminister Alejandro Gil wurde mit 89,54% erstmals in die Nationalversammlung gewählt, sein Wahlkreis liegt im kleinen Städtchen Alquízar in der westlichen Provinz Artemisa.

Nach der Konstituierung am 19. April wird die Nationalversammlung den 23-köpfigen Staatsrat und den Präsidenten wählen, anschließend ernennt sie den Premierminister auf Vorschlag des Präsidenten. Es gilt als wahrscheinlich, dass Díaz-Canel eine zweite Amtszeit anstreben wird.

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2 Gedanken zu “Die Ergebnisse der Parlamentswahl im Detail (Analyse)

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