Nachdem Kuba diesen Sommer, erstmals seit Beginn der aktuellen Krise im Jahr 2020, mit nur wenigen Stromausfällen überstanden hat, hätte man vermuten können, dass das Ende der Rezession näher rückt. Die zarte Blüte erlebte jedoch ein jähes Ende, als Energieminister Vicente de la O Levy Anfang Oktober erneut Energiesparmaßnahmen anzukündigen hatte. Seitdem arbeiten viele Betriebe und Ämter nur Halbtags, der Transport läuft auf Sparflamme, die Ausreisewelle hält an und selbst die Grundversorgung über die Libreta gerät mitunter ins stocken. Wo steht Kubas Wirtschaft heute, am Ende ihres vierten Krisenjahres?
Facetten der Krise
Die Ursachen der Krise sind multikausal und haben sich im Laufe der vergangenen Jahre teils gegenseitig verstärkt: Zum einen wäre da die angespannte Haushaltslage zu nennen, mit der Kuba seit spätestens 2018 ins Zentrum der Trump’schen Sanktionspolitik geriet, in deren Rahmen mehr als 200 Einzelmaßnahmen erlassen worden sind, die vom Tourismus bis hin zum internationalen Marktzugang reichen. Dann kam die Pandemie, die alle wichtigen Devisenbringer der Wirtschaft abwürgte und in deren schwierigster Phase die Insel von den Vereinigten Staaten wieder als „Staatssponsor des Terrorismus“ gelistet wurde. Die zahlreichen ungelösten Probleme der Wirtschaft, überbordende Bürokratie, Missmanagement und Korruption, konnten indes auch mit einem wieder an Fahrt gewinnenden Reformprozess nicht in den Griff bekommen werden. Zu tief sitzen die Probleme, zu gering der finanzielle Spielraum für Lösungen – und zu groß die Angst vor echter struktureller Veränderung bei den Entscheidungsträgern, trotz oder vielleicht gerade wegen der landesweiten Proteste im Sommer 2021. Die Verwaltung des Status quo hat auch in diesem Jahr weite Teile der politischen Agenda bestimmt, die – trotz neuem Kommunikationsgesetz – weiterhin durch Abwesenheit von Agilität und Dynamik geprägt ist.
Drei Jahre seit Beginn der aktuellen Krise, und am Ende des ersten Jahres, das wieder ein „besseres“ (Díaz-Canel) hätte werden sollen, fällt die Bilanz ernüchternd aus. Die Ausreisewelle der vergangenen Jahre, die größte seit der Bootskrise von Mariel 1994, hat ihre Spuren hinterlassen. Seit 2020 haben laut Daten des US-Grenzschutzes rund 480.000 Kubanerinnen und Kubaner das Land in Richtung Vereinigte Staaten verlassen, rund vier Prozent der Bevölkerung. Hinzu kommen jene, die in andere Länder migriert sind. Genauere Auskunft dürfte der Zensus geben, der ursprünglich 2022 geplant war und vor kurzem endgültig auf das erste Quartal 2025 verschoben wurde. Die Folgen der Ausreisewelle sind auch in der Ökonomie überall spürbar und haben die Krise weiter verschärft. Wie die kubanische Zeitschrift „Bohemia“ berichtet, stellt der Fachkräftemangel viele Betriebe vor immer größere Herausforderungen und auch die Sozialsysteme ächzen unter der Lücke. So ging die Zahl der Ärzte seit 2020 um mehr als 12.000 zurück, über 1.300 Universitätsdozenten verließen ihren Posten. Die dreistellige Inflation ließ die Kaufkraft der Löhne in diesem Jahr auf die Hälfte des Niveaus von 2022 schrumpfen.
Neue Hiobsbotschaften gibt es auch aus der Landwirtschaft. Wie Agrarminister Ydael Jesús Pérez Brito vergangene Woche in der Sendung „Mesa Redonda“ (Runder Tisch) erklärte, konnten dieses Jahr lediglich 40 Prozent des benötigten Diesels für Traktoren, 20 Prozent des Tierfutters und nur vier Prozent der notwendigen Düngemittel bereitgestellt werden. Die Produktion erlebte entsprechend empfindliche Einbrüche: So ging die Zahl der Legehennen von einst acht auf drei Millionen zurück, die Schweinefleischproduktion brach von 200.000 im Jahr 2017 bis Ende 2022 auf 16.500 Tonnen um 91 Prozent ein. Beim Anbau von Reis und Bohnen bewegt sich der Einbruch auf etwas niedrigerem Niveau, dort betrug der Rückgang dieses Jahr 10 bzw. neun Prozent. Mittlerweile muss praktisch die gesamte Grundversorgung des staatlichen Bezugshefts „Libreta“ importiert werden, was eine zusätzliche Belastung für den Haushalt bedeutet.
Auch der Tourismus kommt nicht in Tritt. Trotz neuer Flugrouten verschwand Kuba in den letzten Monaten aus vielen Reiseprospekten, da die Rezession auch Auswirkungen auf die Qualität des Fremdenverkehrsprodukts hat – der wohl schwerwiegendste Verstärkungsfaktor der aktuellen Krise, da wichtige und fest eingeplante Devisenreserven ausbleiben. Bis September zählte die Insel 1,8 Millionen Besucher. Zwar zwei Drittel mehr als im vergangenen Jahr, aber immer noch lediglich 55 Prozent des Stands von 2019. Das Ziel von 3,5 Millionen wird in jedem Fall verfehlt werden.
Ein guter Indikator, um den Status der kubanischen Wirtschaft abzulesen, ist der Transportsektor. Wenn es dem Land relativ gut geht, die Wirtschaft wächst, wird hier in Wartung und Anschaffung investiert und die Treibstoffversorgung ist gesichert, was sich in steigenden Passagierzahlen niederschlägt. In Krisenzeiten wird relativ proportional eingespart, wie die Entwicklung der 1990er Jahren zeigte. So konnte der Sektor zwischen 2010 und 2017 ordentlich zulegen und erreichte am Ende dieser Periode wieder rund zwei Drittel des Werts der späten 1980er Jahre, vor der „Sonderperiode“ in Folge der Auflösung des sozialistischen Lagers. Von da an gab es bereits einen ersten leichten Rückgang bei den Deviseneinnahmen in Folge der Krise in Venezuela und neuen Sanktionen. Seither war die Zahl der transportierten Passagiere rückläufig, was sich mit der Treibstoffkrise 2019 nochmals beschleunigte. Die Jahre 2020 und 2021 markieren den Tiefpunkt im Rahmen von Covid-Lockdowns und Rezession. Die leichte Erholung 2022 setzt sich laut Schätzung des Ministeriums in diesem Jahr minimal fort und wird voraussichtlich unter den Werten von 2020 bleiben. Von dieser Warte aus gelesen, dürfte 2023 für die kubanische Wirtschaft de facto eine weitere Nullrunde werden. Auch das Wirtschaftsministerium rechnet mit einem leichten Wachstum, das allerdings, wie Minister Gil betont, „nicht spürbar“ sein werde.
Wie weiter?
Wie geht es nun also weiter? Die jüngste Reforminitiative der Regierung, die Bankarisierung der Wirtschaft, mit der Korruption zurückgedrängt, der Mangel an Bargeld reduziert und die Wirtschaft digitalisiert werden soll, ist ins Stocken geraten. Die Ankündigung, sämtliche Zahlungsströme im gewerblichen Bereich künftig nur noch über bargeldlose Methoden abzuwickeln, hatte zu großer Verunsicherung bei den mittlerweile 8964 kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) geführt. Hauptproblem ist nach wie vor, dass der offizielle Wechselkurs nicht bedient werden kann und der Staat keine Devisen für diesen Bereich der Wirtschaft ausgibt. So lange diese Themen nicht gelöst sind, dürfte sich die Umsetzung verschieben müssen. Im Staatssektor wurden zwar Fortschritte erreicht, aber auch hier Verläuft die Umstellung träge. Statt einen Wachstumsimpuls zu liefern hat die Ankündigung, auch aufgrund ihrer Kommunikation, kurzfristig hauptsächlich zu mehr Verunsicherung geführt.
Kubas Präsident Díaz-Canel bezog am 16. Oktober in einem seltenen Fernsehinterview zur Kritik an seiner Wirtschaftspoltik sowie der allgemeinen Lage des Landes Stellung. „Jeder hat das Recht, uns zu kritisieren, und ich glaube es wäre auch sehr idealistisch zu behaupten, dass alles gut gemacht wurde, dass wir mit allem Recht haben“, erklärte das Staatsoberhaupt, als ihn die Journalistin Arleen Rodriguez mit Kritik am Timing von Währungsreform und Bankarisierung konfrontierte. Man befinde sich derzeit in Zeiten „des maximalen Drucks“, so Díaz-Canel unter Verweis auf die anhaltenden US-Sanktionen. Die Regierung studiere sämtliche Vorschläge von Ökonomen und aus der Bevölkerung, mit denen man zu großen Teilen übereinstimme. „Wir sind weder verschlossen, noch Dogmatiker“, erklärte er und kündigte eine umfassende Aufarbeitung der Fehler der Währungsreform an. Ein großes Problem sei der Mangel an Devisen, der die Umsetzung vieler wirtschaftspolitischer Maßnahmen erschwere, auch jene, die mit der Wechselkursthematik zu tun hätten. Auf die Frage, wo die Ergebnisse der zahlreichen Auslandsreisen und Wirtschaftsabkommen (unter anderem mit China, Russland, Algerien und Vietnam) blieben, antwortete Díaz-Canel, dass diese erst „mittelfristig“ positive Auswirkungen haben dürften. Fast nebenbei machte er in dem Gespräch eine Ankündigung, die aufhorchen lässt: Der Übergang von allgemeinen Preissubventionen hin zur gezielten Unterstützung von bedürftigen Personengruppen, eines der fiskalpolitischen Kernelemente des Reformprozesses, dessen Umsetzung immer wieder verschoben wurde, solle „eher früher als später“ kommen. Auch dies ist Teil des „makroökonomischen Stabilisierungsprogramms“, das bereits vor Monaten angekündigt wurde und weiterhin seiner Umsetzung harrt. Wann erste Schritte erfolgen werden, bleibt abzuwarten. Díaz-Canel gab zumindest einen ungefähren Hinweis, als er im Sommer vor der Nationalversammlung erklärte, dass kommendes Jahr eine „profunde Transformation“ der kubanischen Wirtschaft anstehe.
Trotz aller Probleme bleibt festzuhalten, dass die Genehmigung und Gründung neuer KMU weiter voranschreitet. Sie beschäftigen mittlerweile 260.000 Personen und tragen, gemeinsam mit Produktions- und Dienstleistungskooperativen, rund 13 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt sowie mit acht Prozent zu den Importen bei. Inmitten der aktuellen Krise sind sie einer der wenigen Sektoren, in denen neue, in der Regel überdurchschnittlich bezahlte Arbeitsplätze entstehen. Mit zunehmender Professionalisierung trägt der Sektor zudem bereits zur Bildung neuer Wertschöpfungsketten bei. Das Konsumgüterangebot hat sich durch private Importe in den vergangenen Monaten weiter ausgeweitet und stabilisiert. Die hohen Preise sind in diesem Bereich nicht weiter gestiegen, sondern, wie beispielsweise im Fall von Reis und Bier, mit steigendem Angebot eher gesunken.
Ein weiteres, bislang wenig beachtetes Signal, landete vergangene Woche im Gesetzesblatt: In einer Neufassung des Gesetzes über Agrarkooperativen wurde erstmals die Möglichkeit eingeführt, Kooperativen zweiten Grades (also Zusammenschlüsse mehrerer Genossenschaften in Supraorganisationen) zu bilden, deren Autonomie nochmals bekräftigt wurde. Damit könnten sich in der kubanischen Landwirtschaft künftig größere, nicht-staatliche Akteure herausbilden, die in der Lage sind, weitgehend autark mit anderen Unternehmen zu interagieren. Inkrafttreten soll die Regelung kommenden Januar. Ein Gamechanger? Wie immer gilt auch hier: „The proof of the pudding is in the eating“. Und ob die kommenden Strukturreformen reichen, die Wirtschaft aus der Krise zu führen? Auch das steht – Stand heute – noch in den Sternen. Sicher sagen lässt sich nur: Wenn die kubanische Wirtschaft ihr momentanes Siechtum verlässt, wird das Modell, dass sie dazu befähigen wird, notwendigerweise ein anderes sein.