28. April 2024

Parlamentssitzung: Keine einfachen Lösungen in Sicht

Bei der Sitzung des kubanischen Parlaments am vergangenen 20. und 21. Juli standen – wie könnte es auch anders sein – die wirtschaftliche Situation und Maßnahmen zu ihrer Bewältigung im Vordergrund der Debatten. Das Land ist noch voll im Krisenmodus, die Probleme zahlreich. Darüber hinaus wurden jedoch auch mehrere Gesetze auf anderen Gebieten beschlossen, bei der Umsetzung der neuen Verfassung ist man damit ein Stück weiter vorangekommen. Ein Überblick zur diesjährigen Zwischenbilanz von Kubas Nationalversammlung:

Rede von Präsident Díaz-Canel

In seiner Rede am letzten Sitzungstag ging Kubas Präsident auf die schwierige wirtschaftliche Lage des Landes ein, die Hauptthema der Tagung war.

  • Dabei kam er gleich zu Beginn auf die Frage nach der Notwendigkeit der Fortsetzung der kubanischen Revolution: „Die Option uns zu ergeben wurde aus der DNA der Kubaner gestrichen. Und das nicht aus einer Laune heraus, weil wir Lust haben uns zu opfern, oder weil wir glauben, dass wir eine auserwählte Nation sind. Es genügt ein Blick auf diejenigen, die kapitulierten oder von einer scheinbar unbesiegbaren Übermacht unterworfen wurden: Sie verloren die Nation, das Ideal und das Schicksal ihrer Länder. […] Ich persönlich kann mir Kuba nicht vorstellen ohne die moralische Stärke seiner Partei und ohne die Organisation, Planung und ständige Sorge einer Regierung, deren Hauptaufgabe darin besteht, Gesundheit, Bildung, Ernährung und öffentliche Dienstleistungen zu gewährleisten, einige davon kostenlos und andere zu den geringstmöglichen Kosten, und das unter den schrecklichen Bedingungen einer verstärkten Blockade. […] Am bequemsten wäre es gewesen, den Kampf einzustellen, sich dem globalen Trend anzuschließen, dieses Projekt aufzugeben und dann ‚rette sich wer kann‘. Aber wir haben den schwierigsten Weg gewählt: den würdevollen.
  • In Bezug auf die anhaltende US-Blockade und Kritik von außen sagte er: „Es ist bekannt, dass die größte Stärke Kubas in seinem Volk und seinem beispielhaften Widerstand liegt, deswegen greifen sie uns auch an, indem sie die Saat der Unregierbarkeit, des gescheiterten Staates und der Verunsicherung der Bürger säen. Der Plan ist, uns so weit zu diskreditieren, dass die nationale Einheit zusammenbricht. Dazu tragen einige der extremsten Positionen bei: von rechts, die eine Privatisierung und einen Systemwechsel fordern, und auch von der vermeintlichen Linken, die jeden Raum für den Markt verteufelt. Wie immer berühren sich die Extreme, und beide Positionen stimmen in einem Punkt überein: die lapidare Kritik am Begriff des Sozialismus und an jedem Versuch einer Lösung, der aus der Regierungsverantwortung erwächst. Darauf eingehend erklärte er: „Einige sind müde, über die Blockade zu sprechen; andere erfinden Theorien über die Theorie, als ob die Klassiker die Dialektik negiert hätten. Sie vergessen, dass ihr wichtiger theoretischer Beitrag nicht den sozialistischen Aufbau in einer kleinen Nation vorsah, welche die Unterentwicklung geerbt hat und die seit mehr als 60 Jahren durch das größte Imperium als Nachbar blockiert ist.“
  • Kuba werde der „zunehmenden Tendenz der Vertiefung des neoliberalen Kapitalismus“ weiterhin „ein Projekt der sozialen Gerechtigkeit entgegenhalten.“ Dabei müssten jedoch Missverständnisse ausgeräumt werden: „Soziale Gerechtigkeit bedeutet nicht und kann nicht auf Wohlfahrt oder Gleichmacherei reduziert werden. Sie bedeutet, den von allen geschaffenen Reichtum unter allen zu verteilen, aber auf differenzierte Weise, so dass diejenigen, die am meisten beitragen, am meisten profitieren und diejenigen, die nicht in der Lage sind, etwas beizutragen, Unterstützung erhalten. Um dies zu erreichen, muss zunächst Wohlstand geschaffen werden, und bei dieser Aufgabe sind wir noch weit davon entfernt, unsere Ziele zu erreichen.
  • Die wirtschaftlichen Indikatoren zeigten nach Jahren der Krise aktuell eine „sehr leichte Erholungstendenz.“ So sei beispielsweise die Situation des Stromnetzes „trotz der gesteigenen Nachfrage deutlich besser als im Jahr 2022.“ Im Tourismussektor würden die Besucherzahlen dieses Jahr nicht das Ziel von 3,5 Millionen erreichen, „aber sie zeigen ein Wachstumsmuster, mit dem die Ergebnisse der Jahre 2021 und 2022 übertroffen werden.“ Über den 2022 eingeführten Währungsmarkt konnten bislang 110 Millionen US-Dollar der Industrie zugeführt werden, „was weiterhin unzureichend ist.“ Die Wege für Geldsendungen aus dem Ausland sollen im zweiten Halbjahr verbreitert werden, wobei auch Kryptowährungen genutzt werden sollen. Ein weiterer Faktor der Erholung ist der gestiegene Zufluss an ausländischen Investitionen „als Ergebnis der offiziellen Staatsreisen der letzten Monate“, hierzu zählen neben den bereits angekündigten Joint-Ventures im Handel die Bereiche Landwirtschaft, Zuckerindustrie und Energie, in denen in der zweiten Jahreshälfte neue Projekte entstehen sollen.
  • Zur Lösung der strukturellen Probleme der Wirtschaft wurden multidisziplinäre Arbeitsgruppen aus Wissenschaftlern, Ökonomen und Regierungskadern gebildet, die ein makroökonomisches Stabilisierungsprogramm entwickelt haben, das in der zweiten Jahreshälfte sowie in der ersten Hälfte des Jahres 2024 umgesetzt werden soll. Mit diesem sollen „die Ungleichgewichtge der Wirtschaft schrittweise korrigiert und die Zuteilung von Devisen in Übereinstimmung mit den Prioritäten des Landes“ verändert werden. Weitere Schritte des Programms umfassen die Ankurbelung der Lebensmittel- und Industrieproduktion, die Veränderung des Subventionssystems (weg von allgemeinen Preissubventionen hin zu gezielter Unterstützung) sowie die Entwicklung eines (in beide Richtungen funktionierenden) Währungsmarkts. Die Gesetze für den Privatsektor sollen aktualisiert werden, um seine „Rolle bei der strategischen Entwicklung des Landes“ und der Schaffung neuer Arbeitsplätze zu begünstigen. Díaz-Canel kündigte „unumgängliche strukturelle Veränderungen für die kubanische Wirtschaft“ an, die im Verlauf der kommenden drei Jahre umgesetzt werden sollen.
  • In Bezug auf die hohen Preise für Lebensmittel sollen temporäre Pflaster wie Preiskontrollen auf lokaler Ebene umgesetzt werden, während gleichzeitig an nachhaltigen Lösungen zur Steigerung des Angebots gearbeitet wird. Ein großes Problem besteht in der Zunahme von Korruption, sozialen Disziplinverstößen und anderen illegalen Aktivitäten, die Díaz-Canel als Gefahr für die Werte der Gesellschaft und die Grundpfeiler Sozialismus kritisierte. Die Parallelwirtschaft durchdringe „das gesellschaftliche Gefüge wie ein Krebsgeschwür.“ Als Beispiele nannte er Phänomene wie „Steuerhinterziehung, Bürokratie, Spekulation, Gaunerei und Unanständigkeit“, denen sich sämtliche Institutionen und revolutionären Kräfte des Landes entgegenstellen müssten: „Wir können nicht zulassen, dass diejenigen, die nicht arbeiten, keinen Beitrag leisten und sich in einem Umfeld der Illegalität bewegen, mehr verdienen und bessere Lebensbedingungen haben als diejenigen, die ehrlich arbeiten und einen Beitrag zur Gesellschaft leisten.

Die Lage der Wirtschaft

Raúl Castro (92) war als Delegierter ebenfalls auf der Sitzung präsent (Quelle: Granma)
  • Wirtschaftsminister Alejandro Gil gab auf der Sitzung neue Zahlen bekannt. So konnte Kubas Bruttoinlandsprodukt im vergangenen Jahr lediglich um 1,8 (statt der geplanten vier) Prozent zulegen. Diese leichte Erholung war vor allem auf Zuwächse im sozialen Bereich nach dem Ende der Pandemiemaßnahmen zurückzuführen, während die produktive Sphäre letztes Jahr weiterhin kaum zulegte und teilweise weiter einbrach. Der Anteil der Sozialausgaben am Haushalt lag vergangenes Jahr bei 74 Prozent.
  • Die allmähliche Erholung der Wirtschaft hat noch nicht das notwendige Tempo erreicht“, sagte Gil. Prognosen zum Wachstum im ersten Halbjahr nannte er anders als üblich nicht. Die Inflation im Staatssektor liegt aktuell bei 45,48 Prozent, den größten Anteil daran machen die Bereiche Lebensmittel, Getränke und Transport aus. Weiterhin gebe es eine Tendenz zur Dollarisierung von Transaktionen, sowohl im Privat- als auch im Staatssektor.
  • Als wichtigste Investitionen in diesem Jahr benannte Gil: Projekte in den Bereichen Energie und Wasserwirtschaft, die Erneuerung einer Möbelfabrik in Holguín sowie die Wiedereröffnung des Stahlwerks „Antilla de Acero“ in Havanna nach mehrjähriger Grunderneuerung.
  • Im ersten Halbjahr dieses Jahres wurden bislang 1,28 Mrd. US-Dollar an Exporteinnahmen erzielt, 35,7 Prozent des Jahresziels. Damit liegen die Einnahmen 94 Millionen US-Dollar unter dem bis zu diesem Zeitpunkt geplanten Wert, „was einen direkten Effekt auf jene Aktivitäten hat, die Devisen erfordern“, führte Gil aus. Unter dem Plan blieben vor allem traditionelle Exportgüter wie Nickel und Zucker, während es bei Tabak, Rum, Meeresfrüchten und pharmazeutischen Produkten besser aussieht. Ein weiteres Problem für die Deviseneinnahmen stellt der Rückgang von Telefonaufladungen aus dem Ausland in Folge der gesunkenen Preise dar: „Das ist gut für die Bevölkerung, aber es schadet den externen Einnahmen.“ Den Importplan in der zweiten Jahreshälfte noch zu erfüllen erfordere „große Anstrengungen“, so Gil.
  • Der Tourismus liegt mit bislang 1,3 Millionen Besuchern 20 Prozent unter dem Planziel. Im ersten Halbjahr lagen die Ankünfte bei 51,1 Prozent des Niveaus von 2019. Das Ziel von 3,5 Millionen Besuchern bis Jahresende kann voraussichtlich nicht erreicht werden.
Wirtschaftsminister Alejandro Gil (Quelle: Granma)
  • Kuba versucht dieses Jahr, Importe vor allem mit Exporten gegenzufinanzieren und Kredite aufgrund der Zinsen zu vermeiden. Die Importe mussten deshalb in diesem Jahr gekürzt werden, sie liegen bislang bei 4,37 Mrd. US-Dollar, was 33,8 Prozent des Planziels entspricht. 91,2 Prozent der Importe erfolgen über staatliche Kanäle, der Privatsektor konnte mit einem Wert von 8,8 Prozent an den Gesamtimporten seine Rolle jedoch deutlich ausbauen. Der Exportanteil des Privatsektors liegt aktuell bei lediglich 0,2 Prozent.
  • Derzeit importiert der Privatsektor vor allem Fertigprodukte zum Weiterverkauf. In den kommenden Monaten soll eine neue Steuer- und Abgabepolitik eingeführt werden, mit der Anreize für die Einfuhr von Betriebsmitteln und Rohstoffen gesetzt werden. Damit soll die heimische Produktion stimuliert werden und die Kosten sinken. „Auf diese Weise werden wir ein größeres Angebot und erschwinglichere Preise haben“, sagte Gil.
  • Aktuell läuft eine Inventur im Staatssektor, mit der das neue Unternehmensgesetz vorbereitet wird. Dieses sieht verschiedene Managementformen je nach Zweck der Staatsbetriebe und eine stärkere Nutzung von Marktmechanismen vor. Die Preisbildung soll mit Ausnahme einiger strategischer Bereiche schrittweise freigegeben werden. Gil lieferte zu diesem Anlass eine Momentaufnahme aller Wirtschaftsakteure in Kuba. Demnach besteht die Wirtschaft derzeit aus 2422 Staatsbetrieben, 5138 Genossenschaften (sowohl in- als auch außerhalb der Landwirtschaft) , 103 Joint-Ventures und ausländischen Unternehmen, 8590 privaten KMU sowie 596.000 Selbstständigen („Cuentapropistas“). Während die KMU mit ihren derzeit 236.917 Beschäftigten stark zugenommen haben, hat sich die Zahl der Selbstständigen inzwischen wieder auf etwa dem selben Wert wie vor der Pandemie eingependelt.
  • Die Industrieproduktion hat in den vergangenen drei Jahren einen herben Einbruch in praktisch allen Bereichen erlitten (→ Zahlen und Daten). 55 Prozent des nationalen Konsums (der ebenfalls massiv rückläufig war) wird über die heimische Industrie bewerkstelligt. Viele Anlangen sind jedoch hoffnungslos überaltert und benötigen dringend Investitionen.
  • Darüber hinaus haben die Staatsunternehmen mit einer Vielzahl an strukturellen Problemen zu kämpfen: „Zu den am häufigsten vorkommenden Aspekten gehören das Fehlen einer rechtzeitigen Finanzierung in Fremdwährung, zurückbehaltene Zahlungen an Lieferanten, unzureichende Rohstoffe und Betriebsmittel, Beschränkungen bei der Zuteilung von Brennstoffen und die Anwendung zentralisierter Preise und Tarife in einigen Tätigkeitsbereichen, die die Kosten und Ausgaben der Haupttätigkeit nicht decken“, führte Gil aus. Die wichtigsten Veränderungen, bei denen das kommende Unternehmensgesetz ansetzen wird, sind „Mechanismen des Ressourcenzugangs, der Verwaltung der Arbeitskräfte, der Lohnfindung, der Preisbildung und der finanziellen Beziehungen zum Staat.
  • Ein erster Schritt auf diesem Weg ist die Einführung neuer Devisenkreisläufe auf Basis des 120:1 Wechselkurses, der im vergangenen August eingeführt wurde. Damit können Betriebe einfacher an Devisen gelangen um ihre Produktion vorzufinanzieren. Davon gebrauch machen in einem ersten Schritt die Industrie zur Fertigung von Elektrorollern sowie Teile der Möbel- und Textilproduktion.
  • Die ausländischen Direktinvestitionen konnten (von niedrigem Niveau ausgehend) zulegen. Sie stiegen von 225 Millionen Dollar im ersten Halbjahr 2022 auf aktuell 437 Millionen US-Dollar. Bis dato wurden dieses Jahr 15 neue Projekte genehmigt, drei davon in der Sonderwirtschaftszone von Mariel (ZEDM). In der zweiten Jahreshälfte sollen 22 neue Projekte hinzukommen, darunter fünf neue Vorhaben im Groß- und Einzelhandel, der vergangenes Jahr für Investoren geöffnet wurde.
  • Gil ging auch auf die Zunahme der sozialen Ungleichheit ein: Zwar arbeiteten aktuell nur 1,5 Prozent der Beschäftigten zum Mindestlohn, jedoch beziehen 44 Prozent der Pensionäre aktuell nicht mehr als die Mindestrente von 1500 Pesos. Sozialen Fragen müsse „hohe Priorität eingeräumt werden“, so Gil: „Das Land musste eine Reihe von Entscheidungen treffen, die zweifellos zu Gerechtigkeitslücken führen, obwohl sie direkt oder indirekt der gesamten Bevölkerung zugute kommen sollen.“ Künftig soll deshalb die Verteilung von Subventionen zielgerichteter erfolgen und „denjenigen, die sie wirklich brauchen“ zu Gute kommen.
  • Für das zweite Halbjahr nannte Gil folgende Prioritäten:
    1. Neue Maßnahmen im Unternehmenssystem, angefangen mit kurzfristigen Schritten, um die Einhaltung des Exportplans zu gewährleisten.
    2. Priorisierung von Maßnahmen zur Steigerung der Deviseneinnahmen.
    3. Verstärkung der Aufmerksamkeit für Personen, Familien und Gemeinschaften in prekären Situationen.
    4. Durchführung von Bilanzen der Nahrungsmittelproduktion und -nachfrage in jeder Gemeinde, um die Bereiche zu ermitteln, in denen sie sich selbst versorgen können.
    5. Neue Anreize für die Einfuhr von Rohstoffen und Betriebsmitteln für sämtliche Eigentumsformen
    6. Ordnung der Beziehungen zwischen dem staatlichen und dem nichtstaatlichen Sektor. Dabei soll sichergestellt werden, dass „alle Sektoren zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes zum Wohle des Volkes beitragen.“
    7. Priorisierung jener Maßnahmen des makroökonomischen Stabilisierungsprogramms, die sich unmittelbar auf die Kontrolle der Inflation auswirken.

Weitere Themen

Zur Diskussion standenn aktuelle Themen und Gesetzesprojekte in verschiedenen Arbeitskomissionen (Quelle: Cubadebate)
  • Lebensmittelproduktion: Großen Raum nahm auf der Sitzung das Thema Lebensmittelproduktion ein. Vizepremier Jorge Luis Tapia Fonseca stellte in seinem Bericht die Umsetzung des im vergangenen Jahr beschlossenen „Gesetz über die Ernährungssicherheit“ und der 63 Maßnahmen zur Belebung der Landwirtschaft vor. Die Bilanz sieht düster aus: Wie Tapia Fonseca erklärte, sei „eine bedeutende Zahl der vorgesehenen Maßnahmen von den Verantwortlichen nicht umgesetzt worden.“ Auf kommunaler Ebene seien zwar entsprechende Ernährungsräte gegründet worden, mit denen die Selbstversorgung der Gemeinden organisiert werden soll, doch lassen die Resultate bislang zu wünschen übrig. „Es fehlt an Einsatz, um Lebensmittel zu produzieren. Wir warten alle darauf, dass man uns Lebensmittel schickt, aber wir tun nichts, um sie zu produzieren. Es mangelt an einer produktiven Kultur“, stellte Fonseca fest. Ein großes Problem ist der Mangel an Treibstoff und Futtermittel. So konnte den Landwirten in diesem Jahr lediglich 74 Prozent des Grundbedarfs an Diesel und nur 10 von 1000 Tonnen Düngemittel zu Verfügung gestellt werden. Wie bereits im Mai festgestellt wurde, liegt die landwirtschaftliche Produktion gerade am Boden: „Von den 5 kg tierischem Eiweiß pro Person und Monat wurden im Jahr 2022 nur 438 Gramm pro Kopf erreicht, und im Mai 2023 waren es nur noch 347 Gramm“, so Tapia. Der Diebstahl und die illegale Schlachtung von Großvieh hat in allen Provinzen zugenommen, und zwar auf 44.318 Tiere (23.651 mehr als zum gleichen Zeitpunkt im Jahr 2022). Der Viehbestand ging dieses Jahr weiter zurück, die Produktion von Schweinefleisch sank von 200.000 Tonnen 2018 auf 25.000 Tonnen in diesem Jahr. Die Übertragung ungenutzten Flächen zum Nießbrauch kommt nur schleppend voran, Ende April waren 258.388 Hektar brachliegendes Land zur Übergabe anstehend. Als Gründe für die Verzögerungen wurden genannt: „Schwierigkeiten bei der Nutzung und Verwertung der Flächen sowie organisatorische und logistische Probleme und mangelnde Flexibilität der Kader.“ Ein weiteres Problem ist die schlechte Umsetzung des neu eingeführten Vertragswesens, häufig herrscht Unkenntnis über Methoden und Preise auf Seiten der lokalen Verwaltungen. Die Schulden des staatlichen Abnehmers Acopio bei den Produzenten lagen im Mai bei 49,8 Millionen Pesos. Der Import von Mehl bereitet seit Mitte des Jahres 2022 große Probleme, weswegen das Brot der staatlichen Bäckereien weiterhin mit Yuca, Boniato und anderen Wurzelfrüchten „gestreckt“ wird. Auch der Zuckersektor hat seine Ziele weit verfehlt, Zahlen wurden nicht genannt, die Ursachen lagen teilweise wieder in „subjektiven Mängeln“. Parlamentspräsident Lazo Hernández ging zeitweise aus seiner Rolle als Moderator heraus und kritisierte energisch: „Heute werden 100 Prozent an Reis und Bohnen für die Libreta importiert.“ Nach wie vor mangle es an konkreten Ergebnissen, weshalb die Versorgung der Bodegas Verzögerungen erlebt. „Wir sind der Programme, Maßnahmen und Diagnostiken überdrüssig“, sagte Hernández. Es wurde beschlossen, das Landwirtschaftsministerium im Dezember einer ausgedehnten Prüfung und Rechenschaft zu unterziehen.
  • Energiesituation: Bessere Neuigkeiten wusste Energieminister Vicente de la O Levy zu berichten. So konnte die Wartung mehrerer Kraftwerksblöcke in Mariel, Holguín („CTE Felton“) und Cienfuegos („CTE Carlos Manuel de Céspedes“) erfolgreich abgeschlossen werden. 300 Megawatt kamen durch die Wartung von Dieselaggregaten in Moa und Mariel hinzu, weitere 300 Megewatt wurden durch neue Gasbohrungen gewonnen. „All diese Maßnahmen wurden unter schwierigsten Bedingungen durchgeführt“, führte O’Levy aus, der den Mangel an Ersatzteilen, fehlende Finanzierung und die geltenden US-Sanktionen als Hauptprobleme anführte. Im Ergebnis der Maßnahmen kam im Mai ein Rückgang der Stromabschaltungen von 35 Prozent gegenüber dem Vorjahreswert zustande, im Juni war das Erzegungsdefizit – trotz um 13 Prozent gestiegener Nachfrage – um 38 Prozent geringer als im Juni 2022, so der Minister. Im Juli konnte sich die Versorgung bislang sogar weitgehend stabilisieren, das Defizit lag bislang bei lediglich vier Prozent. Auch die Situation an den Tankstellen hat sich seit Mai „graduell“ entspannt. Die weiter steigende Nachfrage durch die 3,5 Millionen Haushalte wird über Einschränkungen bei staatlichen Verbrauchern bewerkstelligt. Dennoch gab der Minister keine Entwarnung: Die Erfolge sind auf Kante genäht, aufgrund von Problemen mit der Netzspannung kam es in den vergangenen Monaten zu vier größeren Netzausfällen innerhalb von nur 10 Tagen. Ein Problem hierbei ist die Beschädigung von gut 1000 Transformatoren durch Hurrikan „Ian“ im vergangenen Herbst, in der Folge musste Strominfrastruktur aus den Staatsbetrieben in den Wohnsektor ausgelagert werden. Die Elektrifizierungsrate des Landes liegt aktuell bei 99,9 Prozent, lediglich 2479 Haushalte sind ohne Strom. Für diese soll eine Lösung mittels Solarpaneelen gefunden werden. Der Ausbau der erneuerbaren Energien kommt indes nur schleppend voran, in diesem Jahr wurden bislang nur 31 Megawatt an Kapazitäten installiert. Am Ende seiner Rede rief O’Levy zum Stromsparen auf: „Es hängt von uns allen ab, dass die aktuelle Situation stabil bleibt und besser wird“, so der Minister.
  • Transportsektor: Der Transportsektor arbeitet weiterhin mit stark eingeschränkten Mitteln, in Havanna sind rund die Hälfte der Busse nicht einsatzbereit. Landesweit liegt die Verfügbarkeit der Fuhrparke bei unter 50 Prozent. Schwerpunkt auf der Sitzung war der schlechte Zustand der Straßen: Wie Transportminister Eduardo Rodríguez Dávila erklärte, sind 75 Prozent der kubanischen Straßen in „regulärem oder schlechten Zustand.“ Insbesondere Bergstraßen sind in schlechtem Zustand. Um den Straßenbau voranzubringen, wurde eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, die unter anderem ein neues Finanzierungsschema vorsehen, mit denen die benötigten Devisen besser zugeteilt werden sollen, darüber hinaus soll Know-How aus der Wissenschaft in dem Sektor Einzug halten.
  • Wasserversorgung: Mehrere Havarien bei den Pumpen sorgten vor kurzem für einen großflächigen Ausfall der Wasserversorgung in Havanna, zeitweise waren mehr als 200.000 Personen betroffen. Antonio Rodríguez, Präsident des Instituts für Wasserwirtschaft, kündigte die Anschaffung von 1000 neuen Pumpen bis Jahresende an. Für 722 ist die Finanzierung bereits gesichert. Darüber hinaus sollen dieses Jahr landesweit 326 Kilometer an neuen Rohren verlegt werden mit denen mehrere Wassersysteme verbunden werden.
  • Preiskontrollen und Kampf gegen Korruption: Angesichts der weiter zweistellig steigenden Verbraucherpreise wurde beschlossen, dass lokale Regierungen für eine Reihe von Produkten Preisobergrenzen einführen können – in dem Bewusstsein, dass die Maßnahme keine dauerhafte Lösung des Problems sein kann. Über gemeinsame Verträge auf kommunaler Ebene mit den Produzenten (die im Rahmen der neuen Landwirtschaftspolitik eingeführt wurden), sollen realitische Marktpreise erzielt werden. Díaz-Canel mahnte, die Bevölkerung und Massenorganisationen in den Kampf gegen Korruption und Spekulation mit einzubeziehen. Staat und Regierung könnten vor Erscheinungen, die direkte Auswirkungen auf die soziale Gerechtigkeit und die Grundwerte der Revolution hätten, „nicht die Augen verschließen.“ Gleichzeitig lobte er die „unermüdliche Debatte und das große Engagement“ der Nationalversammlung bei diesem Thema.
  • Die Arbeit der Polizei und Gerichte war ebenfalls Gegenstand der Sitzung, allerdings jenseits politischer Fälle. Zum ersten Mal seit über einer Dekade wurde die Gesamtzahl der Gefängnisinsassen in Kuba bekannt gegeben, die bei 35.096 Personen liegt. Im Vergleich zu 2012 ging die Zahl um 35 Prozent zurück, damals lag die Zahl der Gefängnisinsassen bei 57.337. In diesem Jahr wurden die meisten Gerichtsurteile aufgrund von Eigentumsdelikten und Überfällen (4487 Personen), illegaler Schlachtung von Rindvieh (1226 Personen), Drogendelikten (352 Personen), Spekulation und Bereicherung (147 Personen) sowie illegaler ökonomischer Aktivität (48 Personen) erteilt. In 69,4 Prozent der Fälle wurden Freiheitsstrafen verhängt.
  • Neues Militärstrafgesetzbuch: Nachdem vergangenes Frühjahr das zivile Strafgesetzbuch („Código penal“) aktualisiert worden ist, stand heuer ein Update des Militärstrafrechts an. Dieses wurde jetzt in seiner 38. Entwurffassung von den Abgeordneten beschlossen, womit der bisherige Kodex aus dem Jahr 1979 abgelöst wird. So wurden beispielsweise weitere strafrechtlich relevante Tatbestände in Übereinstimmung mit neuen Normen des Völkerrechts sowie des UN-Abkommens zum Schutz der Meere mit aufgenommen. Auch digitale Themen sind enthalten. So kann beispielsweise die missbräuchliche Nutzung von Datenbanken der Streitkräfte durch Militärangehörige mit einer Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren oder einer entsprechenden Geldstrafe sanktioniert werden. Darüber hinaus wurden Verstöße neu kategorisiert und Sanktionen stärker differenziert. Strafen sollen damit transparenter und die Militärgerichte entlastet werden. Für Jugendliche unter 18 Jahren wurden mehrere Sanktionen in Überestimmung mit der UN-Kinderrechtscharta entschärft.
  • Neue Kinder- und Jugendpolitik: Mit der neuen „Integralen Politik für die Betreuung von Kindern und Jugendlichen“ hat Kubas Parlament einen weiteren Schritt bei der Umsetzung der neuen Verfassung genommen. Die 2019 verabschiedete Carta Magna stärkte die Rechte von Kindern und Jugendlichen, was nun in ein ensprechendes Gesetz überführt wurde. Mehr als 20.000 Kinder und Jugendliche haben über Fragebögen und Diskussionsforen an der Erarbeitung des Gesetzes mitgewirkt. Mit der neuen Politik soll beispielsweise die frühkindliche Bildung gestärkt werden, außerdem erhalten Kinder und Jugendliche in schwierigen Verhältnissen neue Arten von Sozialleistungen. Damit soll auch auf die Überalterung der kubanischen Gesellschaft reagiert werden. Weitere Punkte des Gesetzes umfassen (Auswahl): Stärkung der Präventionsstrategie gegen häusliche Gewalt, bessere Sexualaufklärung und Verbreiterung der Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln, neue Zertifizierungsprozesse für Jugendliche Schulabbrecher, Versorgung der Jugendcomputerclubs mit schnellerem Internet, Förderung von WGs und kleinen Wohnungen für junge Erwachsene bis 30 Jahren. Die Vorsitzende des kommunistischen Jugendverbands UJC, Aylín Álvarez, schlug vor, bei künftigen Gesetzgebungsverfahren Kinder und Jugendliche systematisch stärker einzubeziehen.
  • Stärkung der Verbindung zwischen Abgeordneten und Wählern: Als Reaktion auf die gesunkene Wahlbeteiligung wurde die Nationalversammlung mit der Erarbeitung neuer Normen betraut, mit denen die Verbindung zwischen Abgeordneten und Wählern gestärkt werden soll. So müssen Abgeordnete ab sofort mindestens alle drei Monate ihren Wahlkreis besuchen. Was auf lokaler Ebene usus ist, stellt für Mandatsträger auf nationaler Ebene, die in Havanna wohnen aber ihren Wahlkreis in anderen Provinzen haben, eine größere Herausforderung dar. Die Nichteinhaltung dieses Prinzips kann ein Grund zur Abberufung durch die Wählerschaft im Rahmen des imperativen Mandats sein, stellte der Parlamentspräsident klar.
  • Außenpolitik: Außenminister Bruno Rodríguez nannte unter anderem die Arbeit Kubas im Vorsitz der Gruppe 77+China bei den Vereinten Nationen als Hauptpriorität seines Bereichs, auch der Friedensprozess in Kolumbien wird von Kuba weiter begleitet. Darüber hinaus soll die Verbindung mit der Exilgemeinde gestärkt werden, hierfür wird eine Konferenz mit Auslandskubanern organisiert. Die Möglichkeiten für Investitionen aus der Exilgemeinde sollen erweitert werden.
  • Umsetzung von „Tarea vida“: 2017 hat Kubas Nationalversammlung unter dem Titel „Tarea Vida“ (Aufgabe Leben) einen Plan zur Anpassung an die Folgen des Klimawandels beschlossen. Die Forscher auf der Insel gehen davon aus, dass sich der Anstieg des Meeresspiegels zwischen 2050 und 2100 von 29 auf 95 Zentimeter beschleunigen wird. Kuba wird bis zum Ende des Jahrhunderts 9588 Quadratkilometer Landesfläche verlieren. Bis 2050 müssen deshalb 22 Küstensiedlungen mit mehr als 20.000 Bewohnern aufgegeben werden. Ein wichtiger Teil der Strategie besteht in der Anpflanzung von Mangrovenwäldern, um die Erosion zu bremsen. Deren Voranschreiten wurde inzwischen in 84 Prozent der untersuchten Küstenabschnitte festgestellt. Die Anpassungspläne laufen in vielen Gemeinden jedoch schleppend, Abgeordnete beklagten das Fehlen von finanziellen Mitteln und adäqauter Öffentlichkeitsarbeit.
  • Umstellung auf Digitalfernsehen: Seit 2014 rüstet Kuba seinen TV-Standard von Analog auf den chinesischen digitalen DTMB-Standard um, die Zeitpläne wurden jedoch immer wieder gerissen. Seit Beginn der Umstellung wurden 3,4 Millionen Digitalreceiver verkauft, womit theoretisch alle Haushalte über entsprechende Empfangsgeräte verfügen. Mit der Erweiterung des LTE-Mobilfunknetzes auf den Frequenzbereich von 700 Mhz konnten in den ersten Provinzen jetzt mehrere Programme von analoger auf digitale Übertragung umgestellt werden. In Havanna und anderen größeren Städten läuft die Übertragung bereits in HD-Qualität. Im Laufe der letzten Monate konnten 52 analoge Sendemasten außer Betrieb genommen werden, sie werden als Ersatzteilspender für das restliche analoge Übertragungsnetz genutzt. Die vollständige Abschaltung des analogen Sendebetriebs soll 2026 erfolgen.
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