26. April 2024

Hoffen auf bessere Zeiten: Die zweite Amtszeit des Díaz-Canel (Analyse)

Kubas Präsident Miguel Díaz-Canel ist am Mittwoch von den Abgeordneten der kubanischen Nationalversammlung für eine zweite Amtszeit bestätigt worden. Die Eröffnungssitzung des Ende März ebenfalls neu gewählten Parlaments fand inmitten der schwersten Wirtschafts- und Energiekrise seit der „Sonderperiode“ der 1990er Jahre statt. Bei seiner Wiederwahl erhielt der studierte Elektronikingenieur 97,3 Prozent der Stimmen. Bis auf 12 sind alle der 470 Abgeordneten des kubanischen Parlaments Mitglieder der Kommunistischen Partei, der Díaz-Canel seit April 2021 als Erster Sekretär vorsteht. 

Krisen und Blockaden

In seiner Rede dankte Díaz-Canel den Abgeordneten für ihre Unterstützung und kündigte eine schnellere Umsetzung von Reformen an. Die Wirtschaftspolitik wird zum Schwerpunkt der nächsten Legislatur. Gleichzeitig bekräftigte er seine Loyalität gegenüber dem 1959 begonnenen revolutionären Prozess in Kuba. Unter den Anwesenden war auch Raúl Castro, der seinem Nachfolger zu dessen zweiter Amtszeit gratulierte und die Unterstützung der „historischen Generation“ zum Ausdruck brachte.

„Wir müssen diese gigantische Herausforderung ohne Entmutigung annehmen“, erklärte Díaz-Canel vor den Delegierten. Das Hauptaugenmerk seiner Regierung werde sich in kommender Zeit auf die Produktion von Lebensmitteln richten. Als weitere Prioritäten auf wirtschaftlichem Gebiet nannte Díaz-Canel „die Nutzung brachliegender Kapazitäten, die Erhöhung der Deviseneinnahmen, die Reform der Staatsunternehmen, effizientere Investitionen, die Verknüpfung aller Wirtschaftsakteure und die Beteiligung ausländischer Investitionen“. All dies diene dazu, das Angebot an Gütern und Dienstleistungen zu erhöhen und die dreistellige Inflation „unter Kontrolle zu bringen“, so Díaz-Canel.

Einmal verabschiedete Maßnahmen dürften nicht mehr durch „ungerechtfertigte Verzögerungen in der Umsetzung zunichte gemacht werden“, forderte der Präsident eine Beschleunigung des Reformprozesses. „Wir müssen unsere jungen Menschen überzeugen, aber vor allem beweisen, dass sie sich in ihrer Heimat verwirklichen können“, äußerte Díaz-Canel in Bezug auf die anhaltende Ausreisewelle.

Das zerstörte Hotel Saratoga in Havanna nach der Explosion vom 6. Mai
Blick vom Kapitol auf das Hotel Saratoga nach der Explosion am vergangenen 6. Mai (Quelle: MDC/Twitter)

Díaz-Canels erste Amtszeit war von zahlreichen Krisen geprägt: Bereits wenige Wochen nach seinem Amtsantritt im Mai 2018 forderte ein Flugzeugunglück 112 Todesopfer. Im Herbst 2019 brach eine erste Energiekrise in Folge verschärfter US-Sanktionen über das Land herein, die nahtlos in die mittlerweile drei Jahre andauernde Wirtschaftskrise in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und dem Einbruch des Tourismus überging. 2021 ereigneten sich die größten regierungskritischen Proteste seit 1994, in deren Folge rund 700 Personen zu teils langjährige Haftstrafen verurteilt worden sind, was auf internationale Kritik stieß. Vergangenes Jahr setzten eine Gasexplosion in einem Hotel in Havanna, der Brand eines Treibstofflagers in Matanzas und ein schwerer Hurrikan der Inselwirtschaft weiter zu. Treibstoffmangel und unzureichende Wartung brachten das Energiesystem mehrmals an den Rande des Kollaps und führten zu immer wiederkehrenden Strombschaltungen („apagones“). Auf der Habenseite steht die erfolgreiche Umsetzung der Impfkampagne gegen Covid-19 mit eigenen Vakzinen und einer Impfquote von über 90 Prozent. Darüber hinaus gelang es Kuba trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage den Internetzugang in den vergangen Jahren massiv auszuweiten und zu verbilligen, womit Díaz-Canel eines seiner Versprechen einlösen konnte.

Kein einziger Tag in diesen Jahren hat uns die Schläge dieses unerklärten Krieges gegen unsere Wirtschaft und Gesellschaft, gegen das tägliche Leben und die Fortschrittsträume einer ganzen Nation erspart“, erklärte der 63-jährige in Bezug auf die seit seinem Geburtsjahr andauernde und unter Trump mehrfach verschärfte Wirtschaftsblockade der Vereinigten Staaten. Kuba sei weiterhin zu einem Dialog auf Augenhöhe „ohne Druck und Konditionierungen“ bereit, sagte er an die Regierung der Vereinigten Staaten gerichtet. Gleichzeitig rief er die Abgeordneten zum Kampf gegen „Bürokratie, Gleichgültigkeit und Korruption“ auf. „Wir müssen die Blockade überwinden, ohne zu warten, bis sie aufgehoben wird!“, so Díaz-Canel.

An die kubanische Exilcommunity gerichtet äußerte er, dass sich die Revolution „nicht an der Politisierung der Migration beteiligen“ dürfe. Ausgewanderten Personen müsse Respekt und Wertschätzung entgegengebracht werden. „Diejenigen von uns, die hier Widerstand leisten und aufbauen, zählen auf die Kubaner, die sich ihrer Herkunft nicht schämen, um die Nation zu unterstützen“, erklärte der Präsident.

Er widersprach Auffassungen, die den Sozialismus „als fertiges Werk“ betrachten. Er werde „jeden Tag neu geschaffen“, wobei die Revolution das Mittel und der Weg sei „um das den größtmöglichen Grad an sozialer Gerechtigkeit, und auch Glück zu erreichen“. Dies sei „in anderen Systemen nicht möglich, in denen Wohlstand mit Überfluss verbunden ist, in denen einige Menschen sehr wenig oder praktisch nichts haben, weil andere sich den größten Teil des Reichtums aneignen, der von denen geschaffen wurde, die weniger haben“, so Díaz-Canel.

Kabinettsumbildung: Kein Nachfolger in Sicht

Neben dem Präsidenten wurde auf der Sitzung am Mittwoch auch ein neuer Staats- und Ministerrat gewählt. Premierminister Manuel Marrero (59) wurde auf Vorschlag Díaz-Canels für eine zweite Amtszeit ernannt. Auch Vizepräsident Salvador Valdés Mesa (77) und Parlamentspräsident Esteban Lazo (79) bleiben im Amt. Damit gab es in den Spitzenämtern keine Veränderungen. Ein Nachfolger für Díaz-Canel, der nach dem Ende seiner zweiten Amtszeit 2028 laut Verfassung nicht mehr antreten darf, ist derzeit nicht in Sicht.

Lazo hob in seiner Rede die Umsetzung von 138 Gesetzen und Reformpaketen hervor, die in der letzten Legislatur verabschiedet worden sind. Viele sind Teil der Umsetzung der neuen kubanischen Verfassung, über die 2019 ein Volksentscheid stattfand. Ebenfalls per Referendum wurde im September letzten Jahres die „Ehe für alle“ im Rahmen eines neuen Familiengesetzes eingeführt, mit dem das Land über eine der fortschrittlichsten Gesetzgebungen der Region in diesem Bereich verfügt. Mit der jetzigen Legislatur soll die Arbeit der Abgeordneten in Kuba professionalisiert werden. Damit soll mehr Zeit für Diskussionen und Austausch mit den Wählern geschaffen werden. Díaz-Canel ging zwei Tage nach der Sitzung mit gutem Beispiel voran und besuchte seinen Wahlkreis in Santa Clara explizit in seiner Funktion als Delegierter. Künftig sollen diese Besuche einmal pro Monat erfolgen. Die Rolle des Staatsrats, der zwischen den Parlamentssitzungen die Vertretung der Nationalversammlung einnimmt, wird gestärkt. Den Delegierten stünden intensive Diskussionen „komplexer Angelegenheiten“ bevor, wobei insbesondere dem Thema Inflationsbekämpfung mehr Raum eingeräumt wird, erklärte Lazo.

Warten auf Treibstoff dieser Tage an einer Tankstelle in Havanna (Quelle: Cubadebate)

Knapp die Hälfte der Posten des auf 21 Sitze verkleinerten Staatsrats wurde neu besetzt. Die Revolutionsveteranen Guillermo García (95) und Leopoldo Cintra Frías (81) schieden aus dem Gremium aus. Neu aufgenommen wurden unter anderem der Ökonom Iván Santos Prieta (47), die Leiterin des Krankenhauses „Faustino Pérez“ in Matanzas, Taymí Martínez Naranjo (36) sowie die 31-jährige Olympia-Athletin Omara Durand. Das Durchschnittsalter des neuen Staatsrats liegt bei 47 Jahren, der Frauenanteil beträgt 52 Prozent.

Im Ministerrat fielen die Neubesetzungen geringer aus. 20 der 26 Fachminister wurden im Amt bestätigt. Außenhandelsminister Rodrigo Malmierca (66) musste seinen Posten nach 14 Jahren räumen. Sein Ministerium stand wegen der langsamen Fortschritte beim Bürokratieabbau zuletzt zunehmend in der Kritik. Er wurde abgelöst von Ricardo Cabrisas (86), der trotz seines fortgeschrittenen Alters als agil und pragmatisch gilt. Finanzministerin Meisi Bolaños (52) wurde durch ihren bisherigen Stellvertreter Vladimir Regueiro abgelöst. Die Kabinettsumbildung erfasste auch die Ministerien für Bildung und Hochschulbildung sowie das Institut für Raumordnung.

Als einziger ausländischer Gast richtete sich Vietnams Parlamentspräsident Dinh Hue an die Abgeordneten. Er hob die Unterstützung hervor, die Kuba seinem Land in Zeiten des Krieges gewährt habe und betonte, dass Vietnam derzeit der „wichtigste asiatische Investor“ in Kuba sei. Hue kündigte eine Spende von 5000 Tonnen Reis und 300 Tablets für die Abgeordneten der Nationalversammlung an. Russlands Außenminister Sergei Lawrow war unmittelbar vor der Sitzung ebenfalls auf die Insel gereist und traf sich mit Díaz-Canel und Castro zu Energiegesprächen, die offenbar erfolgreich verliefen. Auch Chinas Präsident Xi Jinping beglückwünschte Díaz-Canel zur Wiederwahl und rief am Freitag zur Vertiefung der „kubanisch-chinesischen Gemeinschaft mit gemeinsamer Zukunft“ auf. Xi bekräftigte seinen Willen zu „engem Austausch“ mit Díaz-Canel um „die politische Führung über die Beziehungen der Parteien und Staaten zu stärken“.

Wer ist eigentlich Díaz-Canel – und was hat er mit Kuba vor?

Miguel Díaz-Canel Bermúdez, so sein vollständiger Name, wurde am 20. April 1960 in dem kleinen Örtchen Placetas (Provinz Santa Clara) geboren. Sein Vater arbeitete für eine Brauerei, während seine Mutter als Grundschullehrerin tätig war. Im Jahr 1982 schloss er sein Studium als Elektronikingenieur an der Universität von Santa Clara ab und diente bis 1985 bei den Streitkräften. Im April des selben Jahres begann er als Dozent an seiner ehemaligen Hochschule zu arbeiten, nebenbei war er hauptamtlich als Funktionär für den kommunistischen Jugendverband UJC tätig. Dort sorgte der bekennende Beatles-Fan und Vokuhila-Träger Díaz-Canel für Irritationen: Lange Haare & Rock‘n‘Roll waren im Kuba der 1980er Jahre gerade erst salonfähig geworden, ziemten sich jedoch (noch) nicht für Funktionärsanwärter.

Er arbeitete sich in den Rängen der kommunistischen Partei über mehrere Führungsämter auf Provinzebene hervor. In seiner Heimatstadt Santa Clara hielt er in den 1990er Jahren die Hand über „El Mejunje“, den ersten dezidiert schwulen Nachtklub Kubas, welcher bis heute existiert. In dieser Zeit erarbeitete er sich auch den Nimbus eines bodenständigen und bescheidenen Funktionärs, der anders als viele seiner Kollegen auf den Dienstwagen verzichtete und stattdessen mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr. Nach seinem Aufstieg als jüngstes Mitglied des Politbüros im Jahr 2003 fungierte er zwischen 2009 und 2012 als Hochschulminister. Während seiner Zeit als Vizepräsident des Staatsrats ab 2013 setzte er vor allem bei den Themen Digitalisierung und Erneuerung der Medien Akzente. Am 19. April 2018 wurde er zum Nachfolger Raúl Castros gewählt.

Viele Korruptionsvorwürfe sind in den letzten Jahren gegen kubanische Politiker und deren Familien erhoben worden: Von Fidel Castros Enkel, der sich in einem Mercedes neueren Baujahrs filmte bis hin zu Premierminister Marreros Kindern, die mit einer Regierungsmaschine zum Shoppingtrip ins Ausland gereist sein sollen, die Liste ist lang. Díaz-Canel allerdings konnte sich, trotz Kritik an seiner Politik und Regierungsbilanz, den Nimbus der Bescheidenheit stets bewahren. An anderer Stelle bewies er Nehmerfertigkeiten: Als er zu Beginn der Energiekrise im Herbst 2019 von einer „konjunkturellen Situation“ sprach, brachte ihm der Begriff viel Spott und Häme ein. Das Internet auf der Insel quoll über mit einer ersten Welle von sarkastischen Díaz-Canel-Memes. In einer Rede spielte er damals mit einem Augenzwinkern darauf an und legitimierte diese als Ausdruck der typisch kubanischen Fähigkeit, „selbst über unsere schwerwiegendsten Probleme zu scherzen“. Von Fidel Castro wäre eine solche Entspanntheit in der Frage wohl eher nicht zu erwarten gewesen.

Miguel Díaz-Canel und Fidel Castro in Birán, September 2003 (Quelle: Cubadebate)

Auch wenn die Reform der Medien (die Díaz-Canel als Vizepräsident immer wieder aufgriff) erst dieses Jahr im Rahmen eines neuen Kommunikationsgesetzes wirklich umgesetzt werden soll, hat mit Díaz-Canel ein neuer Stil im Vergleich zum fast öffentlichkeitsscheuen Raúl Castro Einzug gehalten, den er auch in den sozialen Medien pflegt. 2018 verdonnerte er sämtliche Minister dazu, sich Twitter zuzulegen und regelmäßig über ihre Arbeit zu berichten, er selbst tritt immer wieder in Sondersendungen zu bestimmten Themen auf, ohne zum „Dauergesicht“ im Fernsehen zu werden. Doch auch in seiner fünfjährigen Präsidentschaft konnte er bislang die Kluft zwischen offiziellem Diskurs und dem Empfinden großer Teile der Bevölkerung nicht aufheben.

Rund drei Wochen vor der Parlamentswahl im März gab Díaz-Canel gegenüber dem libanesischen TV-Sender Al Mayadeen ein seltenes Interview, das Einblicke in seine Person und Agenda gewährte. In dem ursprünglich auf 50 Minuten angesetzten Gespräch bezog er über drei Stunden hinweg Stellung zu Themen der internationalen Politik und der Situation Kubas. Über weite Strecken hinweg beschränkte er sich darin auf die Wiedergabe der offiziellen Parteilinie. Auch als ihn sein Gast explizit aufforderte, persönlich Stellung zu nehmen, blieb Díaz-Canel bei vorbereiteten Antworten. Der Kontrast zu Fidel Castro, der sich „immer an der Grenze zur Häresie“, wie es ein Beobachter formulierte, in lebhaften rhetorischen Figuren ergießen konnte, hätte nicht größer sein können. Möglicherweise war es aber genau dieses sorgsame Abwägen von Worten und sich-bedeckt-halten, das ihm den Aufstieg an die Spitze des kubanischen Staats ermöglichte. Am Ende gelang es dem Journalisten Ghassan bin Jiddo dennoch, seinem Gesprächspartner einige interessante Aussagen zu entlocken.

Díaz-Canel bekannte sich wenig überraschend klar zur „Fortsetzung des Erbes der Revolution“, die er „sich niemals erlauben würde zu betrügen“. Der Übergang von den Gründervätern der Revolution an die nachfolgenden Generationen sei „ohne Brüche und Trauma“ verlaufen, wie er betonte. Dabei bestehe „die Herausforderung, dieses Werk aus einer kritischen, nonkonformen Perspektive ohne Selbstgefälligkeiten zu reflektieren“. Seine erste Verpflichtung gelte dabei stets dem kubanischen Volk, denn „ohne Verpflichtung gegenüber dem Volk und dessen Wohlergehen gibt es keine Kontinuität“. Ziel der laufenden Wirtschaftsreformen sei es, „in kürzestmöglicher Zeit, trotz Blockade, den Wohlstand und die Zufriedenheit zu erreichen, die das Volk verdient“. Hierfür stehe er in engem Austausch mit Experten und Bevölkerung, deren Sorgen er „spüre und teile“. Zum Stand der Umsetzung gab er sich selbstkritisch: „Ich bin mit vielen Dingen unzufrieden, unter anderem damit, dass wir es nicht geschafft haben, die Probleme des Landes zu lösen […] mit der Art und Weise wie wir einige Dinge umsetzen, die effizientere, effektivere Lösungen sind. Und diese Unzufriedenheit begleitet mich jeden Tag“. Um künftige Verzögerungen im Reformprozess zu vermeiden, soll deshalb auf halber Strecke zum nächsten Parteitag, im Oktober 2024, eine außerordentliche Parteikonferenz stattfinden, auf der Bilanz über die bisherige Umsetzung der 2021 aktualisierten Reformleitlinien gezogen wird.

Gefragt nach den Prioritäten seiner Regierung nannte er als erstes die Verteidigung der Revolution und des Landes, die „den Abbau ökonomischer und ideologischer Vulnerabilitäten“ umfasse. Auf politischem Gebiet formulierte er die Leitfrage „Wie erreichen wir mehr Demokratie in unserem politischen Prozess auf Basis der realen Beteiligung des Volkes an der Entscheidungsfindung?“. Neben den eingangs erwähnten Änderungen sind in der neuen Legislatur unter anderem Programme „für das Empowerment von Frauen, gegen Diskriminierung und Rassismus, gegen kulturellen Kolonialismus und Plattformen der kapitalistischen Restauration sowie zur sozialen Transformation von Stadtteilen mit vulnerablen Gruppen“ geplant. Ziel sei es, die in den vergangenen Jahren stark gestiegenen Ungleichheiten wieder zu reduzieren.

Darüber hinaus verwies er auf das „innovationsgestützte Regierungsverwaltungsmodell“, das in Zusammenarbeit mit Sozialwissenschaftlern der Universität Havanna entwickelt wurde und zu dem er im März 2021 promovierte. Als „Drei Säulen der Regierungsführung“ benannte er: 1. Wissenschaft und Innovation, die Verknüpfung von Forschung, Produktion und entsprechenden Rahmenpolicies, „damit wir für jedes aufkommende Problem konkrete Handlungen auf dem Schirm haben, wie dieses mittels Innovation gelöst werden kann“. 2. Digitale Transformation als Teil eines „notwendigen Mentalitätswandels, auch mit Blick auf die demographische Entwicklung unseres Landes“. Staatliche Dienstleistungen und Behördengänge müssten durchgehend agiler werden. 3. Soziale Kommunikation: „Wie setzen wir der immensen Medienkampagne des Imperialismus emanzipatorische, humanistische Inhalte entgegen? Wie kommen wir zu einer Gesellschaft, in der sich Personen nicht über den Konsum von bestimmten Inhalten oder materiellen Besitz definieren, sondern über ihr Wissen, ihren Beitrag zur Gesellschaft und ihre Solidarität?“. Über alledem stehe das Ziel „Wohlstand und Wohlergehen zu erreichen“.

Díaz-Canel beim Baseball (Quelle: Presidencia/Twitter)

Zum Ende des Interviews lenkte bin Jibbo das Gespräch auf die Person Díaz-Canel. Was treibt Kubas Präsident in seiner Freizeit? „Ich denke ich bin ein frustrierter Sportler, ein frustrierter Musiker und ein frustrierter Künstler“, so Díaz-Canel, der hinzufügte, dass er als Sportler „eher mittelmäßig“ sei, obwohl er jeden Tag vier bis fünf Kilometer laufe, am Wochenende hanteln stemme und gelegentlich schwimme. Als Jugendlicher liebte er Basketball und Wasserball, im Alter sei er auf Softball umgestiegen. In Bezug auf sein musisches Talent bekundete er, dass es ihm nie gelang, Akkorde auf der Gitarre zu lernen, weshalb er später auf Schlagzeug wechselte, wobei ihm dort auch keine großen Erfolge beschieden gewesen seien (als Präsident lieferte er bislang einen Auftritt an der Trommel und als Karaoke-Sänger). Das wichtigste für ihn persönlich ist seine Familie, „ohne deren Rückhalt der Job nicht möglich wäre“. Der Sonntag gehöre der Familie, wo er Zeit mit seinen drei Kindern und seiner Frau verbringt. Der älteste Sohn, mit dem er auch beruflich zusammenarbeite, sei „die Opposition en casa, stets am kritisieren, aber er hat nicht immer Recht“. Mit seiner Frau Liz Cuesta pflegt er eine „innige Liebesbeziehung“ (die auch manchmal für Stirnrunzeln auf Twitter sorgt), sie sei ihm eine „wahre Freundin und Kampfgefährtin“, mit der er politische Themen diskutiert und gemeinsam Ideen entwickelt. „Vom Rest der Familie erhalte ich Unterstützung, Verständnis… aber auch Widerspruch“, so Díaz-Canel.

Fazit: Reformen aus eigener Kraft

Die Umstände von Díaz-Canels zweiter Amtszeit hätten schwieriger kaum sein können. Der ökonomische Fallout der Pandemie, verschärfte US-Sanktionen und ein noch immer mehr schlecht als recht in Tritt gekommener Reformprozess sorgten dafür, dass Kubas Wirtschaft im vierten Krisenjahr (noch immer) mit dem Rücken zur Wand steht. Der Mangel an Lebensmitteln, Medikamenten und Strom prägt den Alltag, erst wenige Wochen vor der Sitzung sind erneut lange Schlangen vor den Tankstellen entstanden während die Inflation kaum abflacht. Nach einem Einbruch von 10,2 Prozent des BIPs im Jahr 2020 und einer kaum spürbaren Erholung in den Folgejahren plant die Regierung dieses Jahr ein moderates Wachstum von drei Prozent. Ob dieses Ziel erreicht werden kann, bleibt offen, doch trotz aller Ungewissheiten spricht vieles dafür, dass der Tiefpunkt der Krise mittlerweile erreicht wurde: neue Investitionen und Handelsabkommen mit Algerien, China, Russland und Vietnam dürften im Laufe dieses Jahres erstmals wieder für Auftrieb sorgen.

Indes bleibt die Frustration auf der Insel weiterhin groß. Politische Apathie und Sarkasmus ob der Lage des Landes bestimmen das Straßengespräch. Immer wieder entlädt sich der Zorn in Form von Graffiti, in denen der Präsident auch persönlich angegangen wird. „Díaz-Canel hat die Last des Unmuts, der Verärgerung oder der Unbeliebtheit der wirtschaftlichen Situation getragen“, erklärte der ehemalige kubanische Diplomat und Analyst Carlos Alzugaray gegenüber der Nachrichtenagentur AP. Viele, die der Revolution den Rücken zugekehrt haben, stimmten unlängst mit den Füßen ab: Seit 2021 haben über 391.000 Kubaner das Land in Richtung USA, was rund drei Prozent der Bevölkerung entspricht. Die größte Auswanderungswelle der jüngeren kubanischen Geschichte.

Díaz-Canels Hauptaufgabe für die kommeden Jahre bleibt die Belebung der Wirtschaft – ob mit oder ohne Änderungen bei den US-Sanktionen. Deren Lockerung könnte deutlich zur Erholung der Wirtschaft beitragen, doch viele Experten sind mittlerweile skeptisch, ob die Biden-Administration nach der erneuten Zulassung von Geldsendungen Anfang des Jahres zu weiteren Lockerungsschritten bereit ist. Auch die vorzeitige Freilassung von im Rahmen der Proteste verhafteten Demonstranten hätte laut Ansicht von Alzugaray wenig Aussicht auf Erfolg: „Es ist irrelevant was Kuba tut, denn es gibt innerhalb der US-Regierung einen enormen Druck, diese krude Politik beizubehalten“, zeigte sich Alzugaray pessimistisch. Die Insel sei dazu gezwungen „die notwendigen Reformen aus eigener Kraft vorzunehmen“. Deren Erfolg hängt nicht zuletzt auch von innenpolitischen Faktoren ab: Wird es gelingen die ausufernde Korruption und Bürokratie zurückzudrängen, ideologische Barrieren im ökonomischen Bereich zu überwinden, für sozialen Ausgleich zu sorgen und gleichzeitig einen Nachfolger aufzubauen? Von der Antwort auf diese Fragen wird abhängen, wie Kuba am Ende seiner Präsidentschaft auf das politische Erbe Díaz-Canels zurückblicken wird.

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5 Gedanken zu “Hoffen auf bessere Zeiten: Die zweite Amtszeit des Díaz-Canel (Analyse)

  1. Ohje, oberflächlich betrachtet sind zwar fast alle Punkte genannt, aber in ihrer Bedeutung verharmlost und marginalisiert. Aber hier ist man auf dem linken Auge blind. Dass Diaz-Canels Regierung ein beeindruckend kompromissloses Regime gegen Andersdenkende betreibt, das in einem neuen Höchstmaß an Repression gegen jene gipfelte, wird nicht in die Waagschale geworfen, obwohl genau das dazu beiträgt, den Menschen zu signalisieren, dass dieses Land sich weiterhin nicht wirklich verändern wird und damit jegliche Perspektiven für die persönlich-wirtschaftliche, aber auch für zivilgesellschaftliche Entwicklung abgeräumt sind, was auch weiter Impuls für Fluchtbewegungen und Abwanderung bleiben dürfte. Obendrein hat die Regierung Diaz-Canels durch die beispiellose Unterdrückung ziviler Aktivisten aus der Mitte der Gesellschaft mit repressiven Mitteln, nicht zuletzt auch durch die unmenschlichen und unverhältnismäßigen Urteile gegen Protestierende und Aktivisten, den Willen Bidens gebrochen, Sanktionen aufzuweichen oder sogar teilweise zurückzunehmen. Dieser Aspekt ist fundamental, wenn es um die Bewertung seiner „Leistungen“ geht.
    Díaz-Canel führt lediglich den stoischen Castroismus stilistisch fort! Die Ein-Parteien-Diktatur macht einfach weiter wie bisher, ungeachtet der Konsequenzen für die Gesellschaft und deren Entwicklung.

      1. Argumentieren will gelernt sein. Wer nichts drauf hat, muss eben ad hominem mit seinem Kleingeist an den Start gehen!

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