27. April 2024

Nation und Emigration: Kuba setzt auf seine Exilgemeinde

Kuba setzt bei der Suche nach Wegen aus der aktuellen Wirtschaftskrise auch auf seine wachsende Bevölkerung im Ausland. Zum ersten Mal seit 2004 fand am vergangenen Wochenende die Konferenz „Nation und Emigration“ statt, bei der mehr als 300 Vertreter der kubanischen Exilgemeinden aus 40 Ländern auf der Insel zu Gast waren.

Vor allem der anhaltende Mangel an Strom und Treibstoff, steigende Lebenshaltungskosten und die nachlassende Qualität der Sozialsysteme (zu den Hintergründen und Auswirkungen der Krise, siehe hier) haben in den vergangenen vier Jahren über eine halbe Millionen, insbesondere junge Kubaner, dazu veranlasst, der Insel den Rücken zu kehren. Die aktuelle Migrationswelle hat „aufgrund ihrer Zusammensetzung die historisch größten Auswirkungen in Bezug auf die Demografie“, erklärte Ernesto Soberón, Direktor für konsularische Angelegenheiten im kubanischen Außenministerium. Heute schätzt Soberón die Zahl der Auslandskubaner und deren Kinder auf 2,5 Millionen, von denen viele unmittelbar nach der Revolution 1959 ausgewandert sind und rund 90 Prozent im US-Bundesstaat Florida leben.

Kubas Regierung sieht in der Community inzwischen eine Chance für die Wirtschaft der Insel. Schon seit Jahren haben Auslandskubaner im kubanischen Privatsektor mitgemischt: Sei es über Geldsendungen (Remesas) an Angehörige oder mehr oder minder direkte Investitionen in Privatpensionen, Restaurants, Bars und andere Geschäfte, von denen einige mit Duldung der Behörden de facto von Auslandskubanern betrieben werden. Ausbau und Vergünstigung des Internetzugangs, der mit Einführung des LTE-Netzes 2019 erstmals für breite Teile der Bevölkerung erschwinglich wurde, haben die grenzüberschreitenden Wirtschaftskontakte in den vergangenen Jahren weiter vereinfacht. Mit der Einschränkung von Geldsendungen hat die Trump-Administration während der Pandemie versucht dem einen Riegel vorzuschieben, der von Biden vergangenes Jahr wieder gelockert wurde. Diesen März hat der Überweisungsdienstleister Western Union schließlich den Betrieb erneut aufgenommen.

Die Exilgemeinde war auf Kuba lange Zeit ein rotes Tuch. Auswanderer wurden nach der Revolution 1959 als „traidores“ (Verräter) oder „gusanos“ (Würmer) bezeichnet, deren vorrangiges Ziel der Sturz der Regierung und die Wiedererlangung enteigneter Besitztümer sei. Aus dem Exil gestartete Terrorakte, wie das Bombenattentat auf ein kubanisches Zivilflugzeug im Jahr 1976, bei dem alle 73 Menschen an Bord ums Leben kamen, ließen diese Lesart nicht ganz unberechtigt erscheinen. Nach genau jenem Tiefpunkt begann sich jedoch der Status quo zu verändern. Zwei Jahre nach dem Anschlag, 1978, fand während der Präsidentschaft Jimmy Carters auf Initiative Fidel Castros die erste Ausgabe der Konferenz „Nation und Emigration“ statt, in deren Folge erstmals Familienbesuche möglich wurden. Mit dem Ende des Kalten Krieges unternahm Kuba weitere Schritte, um die einst glasklare Grenze zwischen den Kubanern auf der Insel und der Exilcommunity aufzubrechen – deren Dollar in der damaligen Krise hochwillkommen waren. Nach der Öffnung des Tourismus waren von kubanischer Seite später theoretisch auch Investitionen möglich, kamen aber aus Angst vor einer „fünften Kolonne Washingtons“ in der Praxis nicht zustande, wie das Beispiel von Saúl Berenthal zeigt, der 2016 eine Traktorenfabrik in der Sonderwirtschaftszone von Mariel errichten wollte und eine Absage aus Havanna erhielt.

Mit Beginn der aktuellen Krise und der „neuen Wirtschaftsstrategie“ Díaz-Canels ist erneut Bewegung in das Thema gekommen. Auslandskubanische Investoren wurden in die Entwicklungspläne inkludiert und aktiv gefördert. So tagte im November 2021 in Havanna zum ersten Mal ein „Geschäftsforum für im Ausland lebende Kubaner“ und neue, kleinteilige Projekte mit lokalem Bezug wurden gezielt für Investitionen durch Auslandskubaner ausgeschrieben. „Wir suchen Wege, um ihre Interessen mit den unsrigen zu verbinden“, erklärte der damalige Außenhandelsminister Rodrigo Malmierca. Auf der Handelsmesse FIHAV wurde dieses Jahr erstmals ein eigener Pavillon für Auslandskubaner eingerichtet. Dort präsentierte der 1980 nach Miami migrierte Hugo Cancio, der bereits seit einigen Jahren einen Onlineshop auf der Insel betriebt und neuerdings auch US-Fahrzeuge in Kuba verkaufen darf, die erste US-kubanische Lebensmittelmarke. Im Juli dieses Jahres erfolgte die Verlängerung der Gültigkeit des kubanischen Passes auf 10 Jahre, was nicht zuletzt Auslandskubanern mit doppelter Staatsangehörigkeit zugutekommt. Cancio ist nach John Kavulich, der im Mai 2022 eine Ausnahmegenehmigung der US-Auslandssteuerbehörde OFAC erhielt, der zweite US-Bürger mit entsprechender Lizenz. „Heute können Kubaner im Ausland uneingeschränkt am Wirtschaftsleben ihres Landes teilnehmen“, erklärte Soberón auf der Konferenz, an der dieses mal nicht nur kubanische Mitglieder von ausländischen Solidaritätsorganisationen sondern auch Geschäftsleute und Ökonomen teilnahmen, die der kubanischen Revolution zumindest nicht feindselig gegenüberstehen.

Vorbilder für diesen Schritt liefern die sozialistischen Bruderländer China und Vietnam, die bei der Reform ihrer Wirtschaft auch auf Investitionen aus der Diaspora setzten: Ohne Kapital aus Taiwan wäre die Entwicklung der chinesischen Elektronikindustrie in den 1980er Jahren kaum denkbar gewesen. Und auch die Reformpolitik Vietnams hätte das Land wohl nicht ohne Investitionen aus dem Exil, vor allem durch „Boatpeople“ in den USA, so schnell auf Wachstumskurs bringen können. Durch enge familiäre Bande und gute Kenntnisse der lokalen Bedingungen finanzierten sie Unternehmungen in schwierigsten Umständen, als das Land für internationale Investoren noch weitgehend uninteressant war. Auch in letzterem Fall erfolgte der Anfang unter den Bedingungen massiver US-Sanktionen, die auf wirtschaftlichem Gebiet 1994 weitgehend und erst 2006 vollständig aufgehoben wurden. Kuba will mit der Öffnung für Investitionen aus dem Exil vor allem „den Lebensstandard steigern, so dass Kubaner auf der Insel bleiben anstatt auszuwandern“, sagte Soberón.

„Es war notwendig, Zweifel und Vorurteile zu überwinden und zu wissen, wie man zwischen den Interessen und Anliegen der in den USA lebenden Kubaner und der Feindseligkeit der US-Regierung gegenüber Kuba unterscheiden kann“, erklärte Präsident Díaz-Canel auf der Abschlusstagung der Konferenz. Heute würden die meisten aus wirtschaftlichen Gründen die Insel verlassen, die Beziehungen zwischen Kuba und seiner Auslandsgemeinde seien „aktiver, offen, und von höherer Frequenz“ als in früheren Momenten. Er verwies auf jüngste Aussagen des republikanischen Senators Marco Rubio aus Florida, der den mit Privilegien verbundenen Sonderstatus kubanischer Migranten in den USA als politische Flüchtlinge zuletzt in Frage stellte. Viele würden „bereits ein Jahr später wieder den Sommerurlaub auf Kuba verbringen und sechs bis acht mal pro Jahr nach Kuba fliegen“, sagte Rubio. Jetzt soll sich die Trennschärfe zwischen In- und Auslandskubanern von Kuba aus auch auf wirtschaftlichem Gebiet nicht mehr in Reisepass oder Nationalität, sondern ausschließlich politisch ausdrücken: „Wir bestehen auf Martís Formel von einem Kuba mit allen und zum Wohle aller, wobei wir klarstellen, dass dieses ‚alle‘ nicht diejenigen einschließt, die sich gegen die Nation verschwören, um sie anzugreifen und zu beleidigen, die zur Invasion aufrufen […] um uns zum 51. Staat der Amerikanischen Union zu machen […] Unsere Arme werden in dankbarer Anerkennung offen sein, um diejenigen zu empfangen und zu umarmen, die ihre persönliche Integrität und sogar ihr Leben riskieren, um das Heimatland in schwierigen Zeiten zu verteidigen und zu unterstützen“, sagte Díaz-Canel an die Auslandscommunity gerichtet.

Hugo Cancio, der früher Dissidentengruppen unterstützte, aber auch manches an Fidel Castro bewunderte und heute „Brücken bauen“ will, könnte die Vorlage für einen auf beiden Seiten der Floridastraße akzeptablen Partner in den US-kubanischen Wirtschaftsbeziehungen liefern, die sich im starken Kontrast zu den politischen deutlich ertweitert haben. Mit der Gründung neuer kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) im Privatsektor hat der Handel zwischen Kuba und den USA in diesem Jahr um rund 60 Prozent zugenommen. Diese können allerdings weiterhin nicht jenseits der Ausnahmelisten mit US-Partnern handeln haben aufgrund der Finanzsanktionen Schwierigkeiten, ihren Zahlungsverkehr abzuwickeln. Zumindest Cancio darf jetzt mit Unterstützung Havannas und Duldung Washingtons an den großen Rädern des bilateralen Handels drehen. Die Biden-Administration scheint dabei erstmal nur zuschauen zu wollen – angekündigte Lockerungen von Sanktionen gegenüber dem Privatsektor liegen weiter auf Eis.

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Ein Gedanke zu “Nation und Emigration: Kuba setzt auf seine Exilgemeinde

  1. Martí wäre heute einer der ersten, die das korrupte Regime in Frage stellen und angreifen würden. Ihn zu zitieren ist eine Beleidung seiner Person.
    Cancio ist ein Opportunist, der nur seine Vorteile erntet.

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