3. Dezember 2024

Der 11. Juli – ein Jahr danach

Ein Jahr nach den Protesten vom 11. Juli 2021 ist die Lage auf den Straßen in Kuba ruhig. Autos düsen entlang der Calle 23 im Herzen Havannas, Familien flanieren in Parks, Schlangen bilden sich an Bushaltestellen und vor manchem Geschäft. Auf Regierungsgebäuden wehten an jenem Datum die Fahnen auf Halbmast nachdem in Folge des Attentats auf Japans Ex-Premierminister Shinzo Abe eine eintägige Staatstrauer angeordnet wurde. Alles scheint eigentlich wie immer, doch im Hintergrund beginnt es derzeit kräftig zu rumoren.

Drei Jahre Rezession

Die Probleme, welche vergangenes Jahr zu den größten regierungskritischen Protesten der jüngeren Geschichte der Revolution geführt haben, sind noch immer ungelöst. Die Versorgungslage ist weiterhin extrem angespannt. Viele Produkte sind nur gegen Devisen oder auf dem informellen Markt erhältlich, Geschäfte in kubanischen Pesos größtenteils leer. Über die garantierte Grundversorgung des staatlichen Bezugshefts „Libreta“ hinaus prägen Tauschhandel, Korruption und Inflation die Distributionskanäle, was nicht zuletzt auch das Vertrauen der Menschen in die ökonomische Handlungsfähigkeit des Staates unterminiert hat. Der informelle Wechselkurs des Pesos liegt derzeit bei 115:1 zum US-Dollar und damit fast doppelt so hoch wie im vergangenen Juli mit 60:1. Nach einem kurzen Rückgang hat der Kurs in den letzten Wochen wieder den Wert des Allzeithochs von Anfang Mai erreicht. Die reelle Kaufkraft der Löhne liegt nach drei Rezessionsjahren (insgesamt -13% des BIP) und anderhalb Jahre nach der Währungsreform heute unter den Werten von vor der Pandemie, was bei vielen Familien an die Substanz geht.

Leere Bäckerei am 16. Juli in der Altstadt von Havanna (Quelle: Helen Yaffe/Twitter)

Die Wirtschaftsreformen schreiten indes „ohne Eile, aber ohne Pause“ voran. Seit letztem September sind mehr als 4000 Kleine und mittlere Unternehmen erstmals unter eigener Rechtsform gegründet worden, eine umfangreiche Reform zur Freigabe der Preisbildung soll den Einzelhandel auf eine neue Grundlage stellen. Die Dezentralisierung des Staatssektors könnte angesichts der anstehenden Restrukturierung des Militärkomplexes GAESA weiter an Fahrt gewinnen. In einer Neuausrichtung der Investitionspolitik wirbt Kuba inzwischen aktiv um Kapital aus der Exilgemeinde und präsentiert Projektideen für kleinere Unternehmen. Die im Mai 2021 gestartete Landwirtschaftsreform beginnt allererste positive Ergebnisse zu zeigen. Präsident Díaz-Canel wird dabei nicht müde, sein Bekenntnis zum Aufbau eines „prosperierenden und nachhaltigen Sozialismus“ auf Basis eines wissenschaftlich fundierten Regierungssystems zu erneuern. Der Weg hin zu einer gemischteren Wirtschaft, die den Markt einbezieht, sowie der Einführung weiterer Rechte und breiterer Partizipationskanäle ist in der neuen Verfassung klar abgesteckt und in Form eines langfristigen Perspektivplans in mehreren Schlüsseldokumenten kartiert. Dabei gilt es (nicht nur, aber vor allem im wirtschaftlichen Bereich) bürokratische Hürden zu überwinden und die dicken Bretter der mittleren Ebene zu durchbohren. Die Farbe der Katze scheint in Teilen des Staatsapparats noch immer die wichtigste Rolle zu spielen, weniger, ob sie Mäuse fängt oder nicht.

Die Knappheit an Medikamenten, ein Nebeneffekt der hohen Investitionskosten für die Entwicklung eigener Coronaimpfstoffe, soll sich diesen Sommer langsam bessern. Die Transportsituation bleibt angesichts des Mangels an Energieträgern trotz zuletzt steigender Lieferungen aus Venezuela prekär. Ein großes Problem ist weiterhin die instabile Stromversorgung, welche letztes Jahr der Funke war, der die Proteste entfachte. Aufgrund fehlender Devisen mussten die Wartungszyklen der teilweise mehr als 40 Jahre alten Schwerölkraftwerke gestreckt werden, was immer wieder zu Havarien führt. Erst vor wenigen Tagen barsten nach Wartungsarbeiten mehrere Rohre der „Termoeléctrica Felton“ in Holguín, was einen schweren Brand nach sich zog. Die Grundlast hat inzwischen Verstärkung von schwimmenden Kraftwerksschiffen bekommen, so dass viele geplante Wartungen in diesem Jahr nachgeholt werden sollen. Um die Probleme dauerhaft zu lösen sind allerdings weitaus größere Investitionsmittel notwendig, die momentan nicht in Sicht sind.

Tanz auf dem Vulkan

Die Verurteilung von 381 Demonstranten zu teils langjährigen Haftstrafen hat sowohl in- als auch außerhalb Kubas für Kritik gesorgt. Die anhaltend schlechte wirtschaftliche Lage dürfte für die meisten jedoch das Hauptproblem am ersten Jahrestag des 11. Juli darstellen. Zwar ist die von manchen erhoffte Wiederholung der Proteste ausgeblieben, doch die Spannung bleibt auf der Insel mit Händen greifbar: In Camagüey versammelten sich im Juni dutzende Studenten nach 15 Stunden ohne Elektrizität auf den Fluren der Universität und skandierten lautstart „Stellt den Strom an!“. Das Video ging wenig überraschend viral. Am 15. Juli titelte das oppositionelle Nachrichtenportal „Cibercuba“ in Anspielung an die Ereignisse des vergangenen Jahres, dass „die Kubaner in Pinar del Río auf die Straße gehen“, während einige Personen in der Nacht vor das örtliche Parteibüro zogen. Auslöser war auch hier ein Stromausfall, der sich in Folge eines Blitzschlags ereignete. Bei vielen lösen die anhaltenden Probleme der Stromversorgung traumatische Erinnerungen an die Hochzeiten der Sonderperiode aus, in denen es monatelang zu Energieabschaltungen von acht Stunden und mehr am Tag kam. Wie der lokale Parteisekretär gegenüber kubanischen Medien erklärte, habe man sofort gehandelt und sei mit den Menschen ins Gespräch gekommen. Nachdem die Proteste im vergangenen Jahr von einer Twitterbot-Kampagne im Ausland mit angeheizt wurden, ist in Folge der Ereignisse am Freitag wieder das Internet für einige Stunden abgeschalten worden. Kuba zu regieren, so scheint es, gleicht derzeit dem Tanz auf einem Vulkan.

Andererseits funktioniert, ähnlich wie zu Zeiten der Sonderperiode in den 1990er Jahren, die steigende Migration als Überdruckventil. Schätzungen zu Folge haben seit Oktober rund 150.000 Menschen das Land verlassen, womit sich gerade schleichend die größte Ausreisewelle der jüngeren Geschichte abspielt welche zahlenmäßig sogar die Bootskrise von Mariel 1980 in den Schatten stellt. Nachdem Trump die erst frisch eröffnete Botschaft unter fadenscheinigen Vorwänden im Jahr 2017 geschlossen hatte, kommt die Bearbeitung von Visa nur schleppend voran. Neue Restriktionen für Drittländer wie Panama erschweren eine geordnete Migration und legen das Schicksal vieler Menschen in die Hände von Schleusern und gefährlichen Bootsüberquerungen der Floridastraße. Ein Zustand, den die kubanische Regierung immer wieder kritisiert hat und der von den Vereinigten Staaten lange Zeit bewusst einkalkuliert wurde.

Die seit mehr als 60 Jahren bestehende Wirtschaftsblockade wurde kurz vor Pandemiebeginn aufs äußerste verschärft. Durch neue Finanzsanktionen wurde die Insel Ende 2019 fast komplett vom internationalen Zahlungsverkehr abgeschnitten. Mit verheerenden Folgen. Ein wichtiger Faktor war die erneute Listung als „Staatssponsor des Terrorismus“, welche staatliche wie private Unternehmen externer Finanzierungsquellen beraubt und sämtliche Akteure auf Kuba zur „persona non grata“ für Banken macht. Laut Angaben des Wirtschaftsministerium sind Importe für das Land derzeit rund 20 Prozent teurer als für andere Staaten; Kredite, Investoren und Geschäftspartner bleiben aus, während die knappen Mittel für die Aufrecherhaltung der Grundversorgung priorisiert werden müssen. Der volkswirtschaftlich wichtige Devisenstrom in Form von Geldsendungen durch Angehörige im Ausland (vor 2020 rund drei Milliarden US-Dollar pro Jahr) hat sich mit der Schließung von Western Union und anderer Anbieter immer weiter ausgedünnt. Der Manövrierraum für Wachstum ist, trotz der Zielvorgabe von vier Prozent in diesem Jahr, massiv eingeschränkt. Selbst verhaltene humanitäre Erleichterungen wurden von Washington lange Zeit ausgeschlossen, obschon Kubas hochwirksame und günstige Vakzine einen gewichtigen Beitrag für die Pandemiebekämpfung im Globalen Süden leisten könnten.

Vermittlungsversuch des Vatikan

CastroPapstFranziskus
Papst Franziskus, hier bei seinem Besuch 2015, will sich noch einmal für Kuba einsetzen (Quelle: Commons)

Nach sechs Jahren Eiszeit deutete sich mit ersten, vorsichtigen Lockerungen von Sanktionen im Mai zuletzt ein Wechsel in Washingtons Kuba-Politik an. Ähnlich wie bei der Annährungen unter dem ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama, könnte auch diesmal Papst Franziskus wieder seine Finger im Spiel haben. Mit seinen jüngsten Äußerungen sorgte der Pontifex für Aufsehen und Empörung nicht nur unter rechten Exilkubanern: „Kuba ist ein Symbol und blickt auf eine große Geschichte. Ich liebe das kubanische Volk und gestehe, dass ich auch eine menschliche Beziehung zu Raúl Castro habe“, bekannte Franziskus, der fortfuhr: „Ich war froh, als die kleine Vereinbarung unter Präsident Obama seinerzeit Zustande kam.“ Im Moment liefen „weitere Sonderierungsgespräche um diese Lücke zu füllen“, so der Papst. Wie ein spanischsprachiger Fernsehsender in Miami am Samstag gemeldet hat, ist der Kardinal von Boston, Seán Patrick O’Malley, zu Gesprächen nach Havanna aufgebrochen.

Eine der Forderungen der Proteste im vergangenen Jahr lautete nach Impfstoff. Während die Inzidenz im dreistelligen Bereich rangierte, war am 11. Juli weniger als ein Drittel der Bevölkerung mit den frisch zugelassenen Vakzinen „Abdala“ und „Soberana 02“ immunisiert. Das Gesundheitswesen befand sich zeitweise am Rande des Zusammenbruchs. Mittlerweile sind 90 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft, womit Kuba nach den Vereinigten Arabischen Emiraten weltweit an zweiter Stelle liegt. Im Mai konnte mit dem Ende der Maskenpflicht die letzte noch bestehende Coronamaßnahme aufgehoben werden, zuletzt lag die 7-Tage-Inzidenz bei 4,3. Paradoxerweise kann Kuba aufgrund aktuellen Weltlage die Früchte der Entscheidung für die Entwicklung eigener Impfstoffe kaum ernten, trotz der beispielhaften Kontrolle der Pandemie kehren in Zeiten von Krieg und Inflation nur wenige Besucher auf die Insel zurück. Die ernüchternd verlaufende Tourismussaison mit 987.000 Besuchern bis Ende Juni legt die Schlussfolgerung nahe, dass Kubas Wirtschaft während der aktuellen globalen Krise ohne eine substantielle Lockerung von Sanktionen möglicherweise keine ausreichende Dynamik entfalten können wird, um die Reformen greifen zu lassen und die Lebensverhältnisse in absehbarer Zeit zu verbessern. Dem scheint sich offenbar auch der Papst bewusst zu sein, indem er versucht, den von Trump angerichteten Scherbenhaufen im kubanisch-amerikanischen Verhältnis zu beseitigen. Ob der erneute „Vermittlungsversuch mit Hilfe von oben“ gelingen wird, bleibt abzuwarten. Eine Erkenntnis kristallisiert sich jedenfalls immer deutlicher heraus: Der Schlüssel zur Lösung der aktuellen Krise auf Kuba liegt heute mehr denn je in Washington.

Die englische Version dieses Artikels findet sich auf der Seite des International Institute for the Study of Cuba (IISC).

Teilen:

2 Gedanken zu “Der 11. Juli – ein Jahr danach

  1. Ein ehrlicher Bericht. Allerdings liegt der Hauptschlüssel zur Lösung der Dauerkrise nicht in Washington sondern in Havana. Sechzig Jahre Misswirtschaft und Diktatur haben diese schöne Insel komplett ruiniert. Die Lösung wäre so einfach. Einführung der modifizierten Verfassung von 1940 und einer Gewaltenteilung. Dann kämen die dringend benötigten Investoren und viele Leute würden bleiben oder zurückkommen. Die Insulaner haben von der aktuellen Lebensform genug. Übrigens in Bejucal fällt seit ca. 5 Wochen jeden Tag der Strom für 6 Stunden aus. Mit der Wasserversorgung ist es auch nicht besser weil die Leitungen seit mehr als 10 Jahren nicht repariert werden. Was vorher war weiß ich nicht .

  2. Hola,
    Ich war als Rentner gerade 14 Monate in santiago, familienvisum immer verlängert weil es keinen Direktflug nach Deutschland gab .
    Im Februar haben dann die Sachbearbeiter der Immigration mir eine letzte Frist zur Ausreise bis Ende März gesetzt, obwohl ich bleiben wollte.
    Kuba braucht dringend Devisen, jeden Monat habe ich meine Rente ausgegeben. Ich habe jeden Monat meine €ros dort gelassen.
    Dieses interessiert die Immigration überhaupt nicht.
    Hier beißt sich die Katze in den eigenen schwarzen.
    Mein Vorschlag:
    Kuba sollte sofort neue visumsbedingungen für Rentner oder andere Personen, die gerne 6 Monate im Jahr verbringen möchten, ansetzen.
    Kanadier zum Beispiel bekommen von Grundauf 6 Monate mit Verlängerungsoption.!!!!!
    Auch sollten die Leute bei Privaten Familien gegen eine monatliche Gebühr wohnen dürfen.
    Diese Maßnahme würde in allerkürzester Zeit locker 1 Milliarde €
    Oder mehr in die Kassen spülen.
    Gerade jetzt überlegen viele Leute 6 Monate in warmen Gefilden zu verbringen siehe Energie preise.
    Vielleicht können Sie ja die entsprechenden Behörden informieren.
    Mfg
    Rainer steinwender

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert